Sexualisierte Gewalt in der Kirche: „Ich habe so vertraut“
Auch die evangelische Kirche hat ein Problem mit sexualisierter Gewalt. Das zeigt die Geschichte von Kati Sörensen.
S ie war intelligent, aufmüpfig und zu Hause viel allein. Kati Sörensen sehnte sich nach etwas, das interessanter sein könnte als dieses Leben im kleinen Dorf Langenrehm südwestlich von Hamburg-Harburg. Sie suchte Kontakt zu Menschen, denen sie etwas bedeutete und die inspirierend sein könnten. Kati Sörensen war dreizehn Jahre alt, als sie im Frühjahr 1987 in der benachbarten evangelischen Kirchengemeinde Nenndorf von Pastor Jörg Deneke konfirmiert wurde. Wenige Monate später begann der über 30 Jahre ältere Mann, die 14-jährige besonders anzuschauen und zu berühren. Als sie 17 Jahre alt war, küsste und streichelte er sie nachts im Schlafsaal in einer Jugendfreizeitstätte, wenig später hatte er Sex mit ihr im Pfarrhaus.
Was folgte, konnte Kati Sörensen damals nicht erkennen. Der Pastor verstrickte sie in eine langjährige emotionale Abhängigkeitsbeziehung. Er hatte Sex mit ihr und sprach von der ganz besonderen Liebe. Knapp zehn Jahre nach den ersten Übergriffen schaffte sie es unter großen Anstrengungen, sich von ihm zu trennen. Sie brauchte noch mehr Zeit und Abstand, bis ihr schließlich bei einem Aufenthalt in den USA deutlich wurde: Das war Missbrauch. Knapp dreißig Jahre nach dem ersten Übergriff wurde der Fall öffentlich.
Lange Zeit hatte man in der evangelischen Kirche beim Thema sexualisierter Gewalt vor allem auf die katholische Kirche und deren Priester geblickt. Aber es gab vielfachen Missbrauch auch durch das protestantische Personal. Allerdings: Die Täter haben ein anderes Profil als katholische Priester oder Ordensleute, es gleicht häufig demjenigen der Reformpädagogik, zum Beispiel der Odenwaldschule. Sie handelten in betont flachen Hierarchien, die Unterschiede an Verantwortung, Macht und Erfahrung zwischen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen ignorierten sie.
Es ist mutigen Menschen wie der heute 47-jährigen Katarina Sörensen zu verdanken, dass die Gefahren, die in falsch verstandener protestantischer Offenheit liegen, bekannt werden. Eigentlich heißt sie anders. Sörensen hat zwar bereits öffentlich über den Fall gesprochen, nicht aber so ausführlich wie mit der taz. Weil sie nicht möchte, dass ihr Name im Internet immer mit dieser Geschichte verbunden bleibt, hat sie sich entschieden, die Pseudonyme Kati und Katarina Sörensen zu verwenden.
Vertrauensspiele
Die Jugendlichen im traditionell protestantischen Nenndorf fanden ihren Pastor klasse. Jörg Deneke war kritisch gegenüber bürgerlichen und kirchlichen Traditionen. Seine Jugendarbeit war in den 1980er Jahren innovativ und aufregend. Die Jungen und Mädchen aus den Dörfern machten neue Erfahrungen mit Glauben, politischem Engagement und Aktionen in der Gemeinde. Ehemalige Kolleg:innen von Deneke beschreiben ihn als gut aussehend, diskussionsfreudig und politisch links stehend. Aber er erschien auch solide, war verheiratet und hatte zwei Söhne. Auch nach ihrer Konfirmation kamen viele Jugendliche regelmäßig in das Turmzimmer des alten Gemeindehauses bei der roten Backsteinkirche. Ihr Pastor wollte, dass man ihn duzte, und sprach darüber, wie wichtig Vertrauen in der Gruppe sei. Deshalb schlug er öfter Vertrauensspiele vor. Es waren Spiele, bei denen man sich viel berührte.
Auf der Grundlage von Tagebüchern, die sie regelmäßig schrieb, schildert Katarina Sörensen, was sie im Herbst 1987 bei einem dieser Spiele, bei denen man sich gegenseitig abklopfte, als 14-Jährige erlebte: „Als ich dran bin, ist Lisa an meinem Kopf, Hannah (Namen geändert) an meinen Beinen, und Jörg klopft in der Körpermitte, an meinem unteren Rücken. Alles ist im Rhythmus, Wärme durchflutet mich. Jörg klopft auf meinem Po, an meinen Oberschenkeln. Mich durchzuckt etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist. Ich schäme mich irgendwie, dass ich überhaupt einen Po habe, dass er jetzt vor Jörg liegt. Aber wenn er darauf klopft, dann ist es ja vielleicht ok, dass ich auch diesen Teil an meinem Körper habe? Alle anderen haben das doch auch. Nur ich habe Angst, dass ich besonders eklig bin. Und dann fühlt sich das auch noch so seltsam an. (…) Ich will nicht, dass die Wärme aufhört, der Rhythmus, meine Verbindung zu den anderen. Es ist doch der Pastor, der hier klopft. Wenn er an diesen Stellen klopft, dann muss das in Ordnung sein.“
„Ich habe so vertraut“, sagt Katarina Sörensen, die heute in Bremen lebt, im Rückblick. „Er stellte ein Ideal für mich dar und war doch so rücksichtslos gegenüber meiner Entwicklung.“ Der Pastor hatte erkannt, dass sie begabt war, und machte sie schließlich zur Gruppen-Teamerin in der Jugendarbeit. Für sie ging ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung, nun konnte sie mitgestalten, sich einbringen und zeigen. Für Kati Sörensen war der Pastor der lang ersehnte Mensch, der Zuwendung schenkte und zu dem sie aufschauen konnte. Er bevorzugte sie gegenüber den anderen Teamer:innen und schuf damit ein besonderes Verhältnis zu ihr.
„Es war emotionale und sexualisierte Gewalt“, sagt Katarina Sörensen, um einen nüchternen Ton bemüht, heute. Damals vertraute sie nur dem Tagebuch ihre Hoffnungen und Nöte an, denn es gab keinen Menschen, mit dem sie hätte darüber sprechen können. Auf der Grundlage ihrer Tagebücher hat Katarina Sörensen ein bislang unveröffentlichtes Buchmanuskript verfasst, in dem sie detailliert und schonungslos über ihre Geschichte schreibt. Teilweise übernimmt sie darin direkt Passagen aus ihrem Tagebuch.
Katarina Sörensen hat ihr Buchmanuskript für diesen Text zur Verfügung gestellt, sodass aus ihm zitiert werden kann. Als 17-Jährige schrieb sie: „Ich habe mir ja schon seit einiger Zeit einigermaßen eingestanden, dass meine Gefühle, meine Liebe zu Jörg, nicht ganz so sind, wie sie sein sollten. Jörg stellt für mich eine Vaterfigur dar. Mit der Zeit ist es mir gelungen, mir dieses unerlaubte Fühlen selbst einzugestehen, ich verdränge es jetzt nicht mehr so extrem. Dadurch kann ich mich besser damit auseinandersetzen.“
900 Fälle sind bekannt
Auf einem Konfirmandenwochenende im Januar 1991 in einer evangelischen Jugendfreizeitstätte legte er sich nachts im improvisierten Schlafsaal mit seiner Isomatte neben sie. Als das Licht gelöscht war, begann er mitten in der Gruppe, sie zu küssen. Im Buchmanuskript steht: „Ich spüre seinen warmen Atem in meinem Gesicht. Es kann doch nicht sein: Es ist der Pastor, es ist Jörg, den ich so sehr liebe, über alle Maßen. Wie einen Vater, oder vielleicht doch nicht? Kann es sein, dass er mich liebt? Dass er verliebt ist in mich? Seine Lippen sind auf meinen, seine Hand streichelt mein Haar. Der Pastor küsst mich? Der Pastor? Und merken die anderen das nicht? (…) Meint er das ernst? Wieso tut er das? Ich verstehe nichts mehr. Liebt er mich, wie ein Junge ein Mädchen liebt oder ein Mann eine Frau? Meint er überhaupt mich? Wieso ich? Wieso hier? So leise wie möglich spreche ich in sein Ohr: „Denkst du überhaupt an mich?“ Ich kann es im Dunkeln kaum sehen, aber ich fühle, wie sein Kopf sich auf und ab bewegt: Er nickt und nickt und nickt. Dann wandern seine Lippen wieder zu meinen, seine Hände sind an meinen Haaren, meinem Hals, gehen unter meinen Schlafsack. Es muss sehr spät sein, als er mich loslässt. Ich liege noch lange wach und starre in die Dunkelheit.“
Erst im Jahr 2010 wurde der erste schwerwiegende Fall von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche überregional bekannt. Ein Pastor im schleswig-holsteinischen Ahrensburg hatte Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre seine drei Stiefsöhne und weitere Jungen und Mädchen sexuell missbraucht. Bereits 1990 hatte eines der Mädchen in ihrer Gemeinde darauf aufmerksam gemacht, aber niemand wollte Genaueres wissen.
Erst zwanzig Jahre später ließ der Skandal sich nicht mehr vertuschen. Bischöfin Maria Jepsen trat zurück, weil auch sie die Aufklärung verschleppt hatte. Ebenfalls im Jahr 2010 machte der Katholik Klaus Mertes, damaliger Rektor des Canisius-Kollegs, eines Gymnasiums in Berlin-Tiergarten, die sexuellen Übergriffe öffentlich, die es dort gegeben hatte.
Beide Konfessionen wissen seit über zehn Jahren von der Problematik in ihren Reihen, aber die evangelischen Kirchen haben bislang weniger zur Aufklärung von sexualisiertem Machtmissbrauch beigetragen als die katholische Kirche. Wie kommt das? Weil in der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, zwanzig Landeskirchen nur lose föderal zusammengeschlossen sind und kein Bischof die Verantwortung dafür übernimmt? Weil sich die Öffentlichkeit vor allem über die katholische Kirche empört, weil bei ihr die Fallhöhe aufgrund ihrer rigiden Sexualvorschriften und des Zölibats größer erscheint?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Bislang wurden in der evangelischen Kirche 900 Fälle bekannt: aus Kinderheimen und Betreuungseinrichtungen für Menschen mit Behinderung, aus Kirchengemeinden mit Kinder- und Jugendarbeit, aus der Seelsorge und aus geistlichen Gemeinschaften. Man muss davon ausgehen, dass es deutlich mehr Fälle sind, weil es die typischen, für sexualisierten Machtmissbrauch hoch anfälligen Handlungsfelder sind. Als im Jahr 2018 die Katholische Deutsche Bischofskonferenz die Ergebnisse ihrer MHG-Studie vorlegte, eine universitäre, interdisziplinäre Studie zum sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige, setzte das auch die evangelische Kirche unter Zugzwang.
„31 Jahre trennen uns“
Zwei Jahre später, im Dezember 2020, begann endlich die Studie zu sexualisierter Gewalt im evangelischen Kontext. Wissenschaftler:innen von sechs Hochschulen und Universitäten sind in diesem interdisziplinär angelegten Projekt tätig. Die EKD gibt dafür 3,6 Millionen Euro aus, hat aber kein Recht, die Veröffentlichung der Studie zu blockieren. Mit Abschlussergebnissen ist erst 2023 zu rechnen.
Einige Tage nach dem Konfirmandenwochenende klingelte Jörg Deneke bei Kati Sörensen, ging mit ihr aufs Zimmer, küsste und streichelte sie wieder, schenkte ihr ein Schmuckstück und fragte: „Was machen wir jetzt, wir Glücksritter?“ Sie fühlte sich gesehen wie noch nie. Im Tagebuch steht: „Jörg, Jörg schreit es, klopft es, pulsiert es in mir. Jörg! Und immer wieder: 48 und 17, 31 Jahre trennen uns, scheinen aber nicht wirklich zu trennen, denn unsere Liebe ist. Dann das Gefühl des Stolzes, ein bisschen. Ich bin so, dass ich von diesem wunderbaren Mann geliebt werde.“
Kati Sörensen begann an die große, ganz besondere Liebe zu glauben. Aber sie musste eisern schweigen und auch ihre Freundinnen belügen. Sie schrieb: „Ich würde ihnen so gerne von Jörg erzählen. Aber Jörg und ich haben uns versprochen, niemandem etwas zu erzählen, und dieses Versprechen werde ich nicht ohne sein Einverständnis brechen.“ Allein und ohne Menschen, die hätten warnen können, geriet sie in eine Beziehung, in der sie emotional stark abhängig wurde. Im März 1991 hatte der Pastor mit der 17-Jährigen zum ersten Mal Geschlechtsverkehr. Ungeschützt, im Ehebett im Pfarrhaus, während seine Frau zur Arbeit in Hamburg war.
„Immer wieder hat er mir eine Liebesgeschichte erzählt“, erinnert sich Katarina Sörensen, die heute als Lehrerin arbeitet. „Ich wusste damals nicht, wie es ist, wenn man wirklich geliebt wird.“ Sie sitzt auf dem großen petrolblauen Sofa in ihrem Reihenhaus und erzählt: „Im Gottesdienst, bei der Predigt oder wenn es in einem Lied um Liebe ging, hat er immer besonders mich angeschaut.“ In der Sakristei beim Einräumen der Gesangbücher, im Turmzimmer des Gemeindehauses oder wenn sie sich in seinem Auto trafen, sagte er immer wieder, wie sehr er sie liebe. Er fasste an ihre Brüste, drückte und küsste sie. Im Pfarrhaus, auf Freizeiten oder auf Kirchentagen hatte er mit ihr Sex.
Kati Sörensen in ihrem Tagebuch
Von sich selbst pflegte der Täter das Bild des freiheitsliebenden, besonders engagierten, jedoch verkannten Mannes. Nur von ihr, seiner Geliebten, werde er so, wie er wirklich sei, gesehen und verstanden. Im Buchmanuskript ist zu lesen: „Vor der Jugendgruppe oder dem Konfirmandenunterricht schlüpfe ich ins Pfarrhaus, wo er mich ins Ehebett zieht oder mir Tee gemacht hat, je nachdem wie viel Zeit wir haben. Manchmal sind es 30 Minuten, manchmal zwei Stunden. Wir sitzen im oberen Stockwerk, (…) in dem uns niemand sehen kann. Es gibt Vollkornkekse zum Earl-Grey-Tee und Jörg erzählt. Ich lerne so viel von ihm, darüber, wie er die Welt sieht. Er vertraut mir an, wie einsam er ist, wie falsch dieses bürgerliche Leben ist. Er ist nicht der sesshafte Typ. Am liebsten würde er nur das besitzen, was auf ein Fahrrad passt, und nie lange an einem Ort bleiben. (…) Wenn Jörg mich fragen würde, ich würde so ein Leben mit ihm führen!“
Die Aufarbeitung beginnt schleppend
Ein sehr bedrückendes Kapitel trägt den Titel „Die Lügenmeisterin. “ Darin schildert Sörensen, wie der Druck, sich ständig zu verstellen und alles zu vertuschen, sie belastete und isolierte, obwohl ihre Freund:innen ihr viel bedeuteten. Aber auf dem Dorf ließ sich nichts verheimlichen und die eigentümliche Beziehung zwischen dem Pastor und dem Mädchen wurde zum offenen Geheimnis. Als die Ehefrau einmal ins Turmzimmer des Gemeindehauses stieg, die beiden dort erwischte und Kati Sörensen vor Scham und Schuldgefühlen am liebsten im Boden versunken wäre, gab Jörg Deneke sich als überlegener Macher. Mit Blick auf die Auseinandersetzung, die seine Frau angekündigt hatte, sagt er nur: „Ich muss dich heute Abend dann wohl retten“ und „Ich werde heute Abend alles bagatellisieren“. Anderntags rief er bei Kati Sörensen an: „Ich habe das heruntergespielt“ (…) „Ich habe ihr erzählt, wir haben da herumgealbert. Dass du nach der Jugendgruppe dageblieben bist, weil es dir schlecht ging.“
Unter dem sozialen und emotionalen Druck, zu vertuschen und sich zu verstellen, standen nicht nur Kati Sörensen, sondern auch die Ehefrau und die beiden Söhne. Auch sie konnten oder wollten das Bild der intakten Pfarrersfamilie und Gemeinde, an deren Spitze der rechtschaffene Pastor steht, nicht zerstören. Heftige Gefühle von Wut und Ohnmacht, die sie erlebten, wendeten sie gegen sich selbst. Niemand schlug Alarm.
Über zwanzig Jahre später, im Jahr 2015, wandte sich Katarina Sörensen an die Ansprechstelle für Missbrauchsopfer der Landeskirche Hannovers. Zu diesem Zeitpunkt war der Täter bereits zwei Jahre tot und der Fall seit fünf Jahren strafrechtlich verjährt. Wie viele Opfer hatte auch Katarina Sörensen lange gebraucht, um den Missbrauch zu erkennen, sich Hilfe zu holen und das Geschehene so weit zu verarbeiten, dass sie darüber sprechen und Forderungen stellen konnte.
Ihre erste Ansprechpartnerin bei der Kirche war die Pastorin Hella Mahler, die die Kontaktstelle leitet und auch Gleichstellungsbeauftragte ist. Wenig später schrieb Sörensen für die Landeskirche einen Bericht, in dem sie aus ihrer Perspektive detailliert schilderte, was ihr in der Missbrauchsbeziehung zum Pastor geschehen war.
In den sechs evangelischen Landeskirchen in Niedersachsen und in Bremen entscheidet eine „Unabhängige Kommission“ über „Leistungen in Anerkennung erlittenen Leids“. Das sind Zahlungen, mit denen die Kirche ihre Schuld und ihre Verantwortung als Institution anerkennt. Die Mitglieder der Kommission sind nicht an Weisungen gebunden, es ist umgekehrt: was die Kommission entscheidet, ist bindend für die Kirche. Sie setzt sich zusammen aus drei Frauen und zwei Männern, die berufliche Erfahrungen aus der Rechtsprechung, aus Beratung und sozialpädagogischer Arbeit mitbringen. Ihr Vorsitzender ist gegenwärtig Hanspeter Teetzmann, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht in Oldenburg.
Pressekonferenz im Gemeindehaus
Katarina Sörensen erhielt 35.000 Euro zugesprochen, die für die evangelische Kirche bis dahin höchste Summe. Sörensen wies die Landeskirche Hannovers darauf hin, dass es wahrscheinlich weitere Opfer gebe in Gemeinden, in denen der Pastor zuvor und danach tätig gewesen war. Sie erwartete Nachforschungen und Aufklärung. Darauf geschah jahrelang nichts.
Aber im Sommer 2020 wurde der Fall schließlich öffentlich gemacht. Bei einer Pressekonferenz saßen die beiden Pastorinnen, die heute in der Gemeinde Rosengarten-Nenndorf tätig sind, der Superintendent des Kirchenkreises Hittfeld, zu dem die Gemeinde Nenndorf gehört, und Rainer Mainusch, der Leiter der Rechtsabteilung des Landeskirchenamtes in Hannover, an einem Tisch. Katarina Sörensen war per Video ins Gemeindehaus in Hittfeld zugeschaltet. „Mit diesen Personen habe ich Glück gehabt“, sagt Katarina Sörensen im Gespräch. Es habe zwar gedauert, bis sich die Kirche entschieden habe, an die Öffentlichkeit zu gehen, aber sie hätten unterstützend gehandelt.
„Ein Ziel war auch, anderen Betroffenen Mut zu machen, sich zu melden“ sagt Rainer Mainusch, ein menschlich nahbar wirkender Jurist mit grauen Haaren und warmer Stimme, in einem Videotelefonat. Neben Berichten in Presse, Hörfunk und Fernsehen gab es auch eine Aktion im 150 km südlich gelegenen Wolfsburg. Der Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen und die dortige Lokalzeitung veröffentlichten einen Aufruf an betroffene Frauen, sich zu melden.
Ab 1971 war Jörg Deneke 15 Jahre lang in Wolfsburg tätig gewesen. Mittlerweile haben sich 13 Frauen gemeldet, die von ihm missbraucht oder belästigt wurden: neun Betroffene aus Wolfsburg und vier aus Nenndorf.
Nach Abitur und freiwilligem sozialen Jahr ging Katarina Sörensen im Herbst 1993 nach Irland. Sie wollte Abstand gewinnen und sich klar werden, wie es weitergehen sollte. Auf ihr Drängen hin sprach Jörg Deneke mit seiner Ehefrau endlich offen über die Beziehung zu ihr. Die 20-Jährige wollte ein Ende des Versteckens und dass der Pastor, der ihr immer wieder seine Liebe erklärte, sich zu ihr bekenne.
Die Fassade hielt
Aber Deneke lebte weiterhin sein Doppelleben – nun im Pfarrhaus und in Irland, wo er Katarina Sörensen mehrfach besuchte. Im Frühjahr 1995 wurde sie ungeplant schwanger. Nun rückte Deneke von ihr ab, nannte viele Gründe, die dagegen sprächen, in seiner jetzigen Situation ein Kind zu bekommen, unterstellte ihr, sie sei nicht ausreichend belastbar für die Mutterschaft, und entzog ihr seine Unterstützung. Für Katarina Sörensen brach eine Welt zusammen. Wenig später stellte eine Ärztin fest, dass sie Zwillinge erwartete. Der Abbruch in einer Klinik in London wurde für Katarina Sörensen eine schwere psychische Traumatisierung. „Danach war die allerschlimmste Zeit“, sagt sie heute nur knapp.
Einen Tag nach dem Abbruch nahmen Deneke und sie ein Flugzeug zurück nach Hamburg. Am Flughafen wartete die Frau des Pastors. Die Ehefrau holte ihren Mann und seine Geliebte nach der Abtreibung ab. Sie erklärte sich sogar damit einverstanden, sie für einige Tage im Pfarrhaus aufzunehmen, weil die 21-Jährige in schlechter gesundheitlicher Verfassung war. Alles wurde vertuscht, um eine heile evangelische Welt vorzuspielen. Heute kann die Witwe des Pastors auf die Geschehnisse nicht mehr angesprochen werden. Sie ist alt, krank und lebt im Pflegeheim.
In der evangelischen Kirche gilt die Regel, dass jede:r Pastor:in nach zehn Jahren Dienst in der Gemeinde vom Kirchenvorstand erneut bestätigt werden muss. Verweigert der Kirchenvorstand seine Zustimmung, folgt zwangsläufig die Versetzung. Diese Zehn-Jahres-Regel soll die Handlungsfreiheit der Gemeinde stärken.
In Nenndorf gab es Mitte der 1990er Jahre erhebliche Konflikte um Pastor Deneke. Aber weil er Aktivist für Frieden und Gerechtigkeit war, zum Beispiel den Schützenverein nicht zu seiner angestammten Feier in die Kirche ließ, wurden die Konflikte nach dem Schema Links-alternativ gegen Rechts-traditionell ausgetragen. Dass der Grund für Bestrebungen, ihn loszuwerden, auch seine auffällige Nähe zu jungen Frauen war, darüber wurde nicht offen gesprochen. Deneke musste die Gemeinde wechseln, aus der neuen wurden keine Übergriffe bekannt.
Im Herbst 2020 wurde Katarina Sörensen von der EKD in deren neu geschaffenen Betroffenenbeirat gewählt. Aber schon im Mai dieses Jahres kündigte die EKD die Zusammenarbeit mit den Betroffenen wieder auf. Katarina Sörensen erlebt dies als „wahnsinnig verletzend“, wie sie am Telefon sagt. Es sei „wieder die Entwürdigung, die ich schon einmal erlebt habe von dieser Institution“. Denn trotz ihrer mittlerweile kritischen Haltung gegenüber der Kirche hatte sie doch gehofft, dass eine Kooperation zwischen Kirche und Betroffenen möglich sei. „Aber wir sind keinen Zentimeter weitergekommen“ stellt sie desillusioniert fest.
Weiß die Kirche, was sie will?
Die Arbeit im Betroffenenbeirat war von Beginn an schwierig. Zwölf Frauen und Männer, die einen kirchennah, die anderen kirchenfern, in unterschiedlichen beruflichen und familiären Situationen und mit unterschiedlich viel Zeit, sollten sich über Zoom selbst organisieren. Sie sollten den Beauftragtenrat der EKD beraten, das Gremium aus fünf Bischöf:innen und drei Jurist:innen, das verantwortlich dafür ist, die Aufarbeitung voranzubringen. Wie aber sollten sie beraten? Es gab keine Absprachen und Vereinbarungen mit den Betroffenen über ihre Rechte, über die Verfahrensabläufe und über die Ziele. Diese gravierenden Mängel führten bereits im Frühjahr zum Rückzug von fünf eher kirchennahen Mitgliedern aus dem Betroffenenbeirat. Sie erklärten in einer Pressemitteilung, sie seien es müde, mit viel Aufwand „hochqualifizierte Beratungsleistung in eine Organisation zu investieren, die noch kein klares Bild davon hat, wo sie selber hinsteuern möchte.“
Christoph Meyns, Bischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche von Braunschweig, ist seit November 2020 Vorsitzender des Beauftragtenrats und damit verantwortlich für die Aufarbeitung des sexualisierten Machtmissbrauchs in der EKD. Von den bislang bekannt gewordenen 900 Fällen sexuellen Missbrauchs sind die meisten ehemalige Heimkinder. Diese Fälle liegen sehr lange zurück, die Betroffenen sind alt, oft auch arm. Solche Menschen leben auch in Meyns’ Braunschweiger Landeskirche. Es sei „furchtbar“, was da geschehen sei, er sei „tief erschüttert“, sagt er im Gespräch über Zoom, es klingt glaubwürdig.
Nachdem die EKD ihr Aus für den Betroffenenbeirat verkündet hatte, sagte Meyns in der „Tagesschau“, er sei „traurig“, dass es nicht zu einer Einigung mit den Betroffenen gekommen sei. Aber solche emotionalen Statements bringen die Aufarbeitung nicht voran. Die EKD hat mittlerweile erklärt, sie wolle wissenschaftlich untersuchen lassen, woran die Zusammenarbeit mit den Betroffenen gescheitert sei. Danach wolle man die Arbeit mit ihnen fortsetzen. Es ist fraglich, ob diese dazu noch bereit sind.
Aber es gibt auch Erfolge, seit vor knapp drei Jahren auf der EKD-Synode ein Plan zur Aufarbeitung beschlossen wurde: Eine Gewaltschutzrichtlinie verpflichtet jede der zwanzig Landeskirchen, Kirchengesetze mit klaren Richtlinien zu Prävention und Aufarbeitung zu verabschieden. Knapp die Hälfte der Landeskirchen entschied mittlerweile, sich bei Zahlungen an die Höhe der Schmerzensgelder zu halten, die in der staatlichen Rechtsprechung bei sexuellem Missbrauch angewendet werden. Das sorgt für Transparenz und Einheitlichkeit. Und es gibt Help, die Hotline einer Beratungsstelle, wo sich Betroffene an traumatherapeutisch geschulte Fachkräfte wenden können, die unabhängig von der Kirche arbeiten, aber von der Kirche bezahlt werden.
„Das Ausmaß und die Bedeutung wurde lange nicht erkannt“, sagt Pastorin Karoline Läger-Reinbold. Seit Kurzem arbeitet die 57-Jährige an der Aufarbeitung in der Landeskirche Hannovers. Läger-Reinbold, die auch über eine Zusatzausbildung als Coach verfügt, betont im Gespräch über Zoom, dass die Zusammenarbeit mit Katarina Sörensen wichtig sei. Auf deren Vorwurf, es gebe eine „Verschleppungstaktik“, sagt die Pastorin abwägend: „Manches geht nicht so schnell, auch nicht so, wie wir es gerne selber hätten.“ Es habe lange gedauert, bis das Landeskirchenamt angemessen Personal und Ressourcen bereitgestellt habe.
Erkenntnis in der Wüste
In der Landeskirche Hannovers wurden bislang 130 Fälle von sexuellem Missbrauch von der Unabhängigen Kommission abschließend entschieden: 114 davon geschahen in Heimen, 16 in Kirchengemeinden. Die Aufgaben für die Aufarbeitung sind umfassend: Aufdeckung und Untersuchung von Fällen, individuelle Aufarbeitung mit den Betroffenen, finanzielle Leistungen, Änderungen von Dienstvorschriften und im Kirchenrecht, Prävention in der Aus- und Fortbildung von Pastor:innen, Diakon:innen, Ehrenamtlichen und in der Seelsorge, Aufträge für weitergehende Studien.
Die Aufarbeitung dauert lange, vielen zu lange. Aber sexueller Missbrauch ruft stets Abwehr, Bestürzung und Beschämung hervor. Vielleicht dauert es deshalb so lange, bis gehandelt wird.
Katarina Sörensen schaffte es im März 1997, sich von Jörg Deneke zu trennen – zehn Jahre nach den ersten Übergriffen und über sechs Jahre nach Beginn des offenbaren Missbrauchs. Frauen, mit denen sie als Studentin zusammenwohnte, unterstützten sie. So konnte sie den Anspruch, den dieser Mann auf sie, auf ihren Körper, ihre Zeit und ihre Gefühle erhob, schließlich zurückweisen.
Zwei Jahre später flog Katarina Sörensen zu einem Auslandsstudium in die USA. In der Wüste von Arizona, allein auf sich gestellt, geschah es: Die ganze Zeit hatte sie geglaubt, sie hätte eine unglückliche Liebesgeschichte erlebt. Aber Tausende von Kilometern von Deutschland entfernt bröckelte dieses Bild. In ihrem Buchmanuskript steht: „In mir ist ein Gefühl von Verlorensein, von Ekel, von Einsamkeit. Das Gefühl von versäumten Jahren, die Erinnerung an Schmerz. In einer langen Nacht kommt mir der Gedanke – das allererste Mal –, das, was Jörg mit mir getan hat, könnte eine Form von Missbrauch gewesen sein. Ich sehe ihn an, diesen Gedanken, denke über das Wort nach: Missbrauch. (…) Ich finde die Idee grauenvoll, monströs, schiebe sie zur Seite, will sie zurücknehmen, nicht wahrhaben.“
Aber Katarina Sörensen wollte die Wahrheit wissen. Schließlich überwand sie die Scham, offenbarte ihre Geschichte und kann heute andere Betroffene ermutigen.
Anmerkung der Redaktion: Die Schilderungen des sexuellen Missbrauchs basieren auf Tagebucheinträgen, dem Manuskript und den Erinnerungen von Kati Sörensen. Die evangelische Kirche hat den Fall öffentlich anerkannt, weitere Opfer des Pastors haben sich gemeldet. Weil Jörg Deneke verstorben ist, gab es keine Möglichkeit, ihn mit der Recherche zu konfrontieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren