piwik no script img

Sexualisierte Gewalt bei den Zeugen JehovasKein Schutz für die Opfer

Missbrauch bei den Zeugen Jehovas hat eine riesige Dimension. Aus der abgeschlossenen Welt der Gläubigen dringt nur wenig nach draußen.

Das äußere Erscheinungsbild der Zeugen Jehovas Foto: Matthias Balk/dpa/picture alliance

Berlin taz | Sie war etwa 40 Jahre alt, als sie der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs ihre Geschichte erzählte: Als sie fünf war, wurde sie von einem jungen Mann, damals 18 Jahre alt, sexuell missbraucht. Der junge Mann, so erzählte es am Donnerstag Heiner Keupp, Sozialpsychologe und Kommissionsmitglied, sollte auf das Mädchen aufpassen, während die Eltern in ihrer Mission unterwegs waren – der Mission der Zeugen Jehovas.

Die Zeugen Jehovas sind eine christliche, stark missionierende Religionsgemeinschaft, die unter anderem Bluttransfusionen, Sex vor der Ehe, Tabak und die Teilnahme am politischen Geschehen verbietet. Filme, Bücher, Videos, in denen Zauberei oder Gewalt vorkommen und Freundschaften außerhalb der Zeugen Jehovas, werden im Kosmos der Sekte abgelehnt.

Das Mädchen erzählte seiner Mutter von der sexuellen Gewalt durch den jungen Mann. Doch anstatt ihrer Tochter zu helfen, befahl die Mutter dem Kind zu schweigen, alles andere könne die Karriere des jungen Mannes gefährden. Es brauchte Jahre, bis sich das Mädchen von den Ereignissen erholte, erst als Erwachsene begriff sie, dass sie keine „beschädigte Ware“ und ebenso wenig „unwert“ ist. Sondern dass ihre Eltern das Mädchen für „ihre Religion verkauft“ hatten.

Missbrauch bei den Zeugen Jehovas hat eine riesige Dimension. Zu dieser Erkenntnis kommt die Aufarbeitungskommission, seit sie tausende Meldungen von Betroffenen sexueller Gewalt im Kindes- und Jugendalter auswertet, die bei der Kommission seit 2016 eingehen.

Opfer finden weder Gehör noch Schutz

Mittlerweile wurden weltweit Fälle sexualisierter Gewalt bei den Zeugen Jehovas bekannt. In Australien und Großbritannien haben sich staatliche Kommissionen der Aufarbeitung angenommen, in den Niederlanden werden die Fälle von Wissenschaftseinrichtungen untersucht. Durch Ermittlungen einer amerikanischen Rechtsanwaltskanzlei in Kalifornien wurde 2014 bekannt, dass die Zeugen Jehovas dort eine Datenbank führten, in der Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs erfasst wurden.

Ex­per­t:in­nen schätzen die Zahl der Fälle weltweit als hoch ein, genau bekannt ist sie nicht. Denn die Zeugen Jehovas sind eine in sich geschlossene Gemeinschaft mit eigenen, sehr strengen Regeln. Kaum etwas aus dem Innenleben der Sekte dringt nach außen. So hat die Aufarbeitungskommission in Deutschland vor allem durch Aus­stei­ge­r:in­nen ­von den Missbrauchsfällen hierzulande erfahren. In der kommenden Woche will die Kommission, so sagte es am Donnerstag Kommissionsmitglied Keupp, einen Aufruf veröffentlichen, der sich an Betroffene, Zeitzeugen und Aus­stei­ge­r:in­nen wendet.

Im Gegensatz zu den massenhaften Missbrauchsfällen vor allem in der katholischen Kirche, in der Kinder mittlerweile besser geschützt sind, fanden Opfer bei den Zeugen Jehovas keinerlei Gehör und keinen Schutz. Mehr noch: Sie liefen Gefahr, aus der Gemeinschaft herausgedrängt zu werden. Doch mit dem Ausscheiden aus der Sekte verlieren sie nicht nur die einzige Gemeinschaft, die sie kennen und haben, sondern zudem ihre komplette Wertegrundlage.

Hat ein Opfer den Mut, einen Täter zu benennen, wird der Fall intern behandelt. Ex­per­t:in­nen vermuten, dass dabei mitunter die sogenannte Zwei-Zeugen-Regel herangezogen wird: Weist ein Täter oder eine Täterin jegliche Schuld von sich, muss mindestens eine weitere Person den Missbrauch bestätigen.

Wer aussteigt und spricht, wird mit Klagen überzogen

Doch sexuelle Gewalt ist ein „Verbrechen im Geheimen“, wie Kommissionsmitglied Matthias Katsch sagt, niemand – außer Opfer und Täter – ist in der Regel dabei. Das mache Aufklärung und Schutz der Opfer nahezu unmöglich, sagt Katsch. Katsch hatte die Missbrauchsfälle am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin mit öffentlich gemacht und den „Eckigen Tisch“ für die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle mit gegründet.

Frauen und Männer, die bei den Zeugen Jehovas aussteigen und über die Fälle öffentlich berichten, werden von der Sekte mit Klagen überzogen. So erzählte es am Donnerstag Udo Obermayer. Obermayer wurde in eine Zeugen Jehovas-Familie hineingeboren, lebte viele Jahrzehnte in ihr, bis er den Druck, die Vorgaben, die „Taktung“ dort nicht mehr ertrug, einen Burnout erlitt und ausstieg. Nach seinem Ausstieg musste er sich ein völlig neues soziales Umfeld aufbauen, er gründete den Aussteigerverein „JZ Help“.

Die Zeugen Jehovas bezeichnen Aus­stei­ge­r:in­nen als Lügner, erzählt Obermayer. Die Zeugen bauten Drohkulissen auf und gingen juristisch gegen nahezu alle öffentlichen Äußerungen und Publikationen vor. So sollte ein kleiner Verlag ein Buch des Aussteigers Simon Rohde vom Markt nehmen. Die Klage blieb letztlich allerdings erfolglos.

Die Masche sei immer dieselbe: Die Zeugen Jehovas pickten sich minimale ungenaue Details in einem Print- oder Audiobeitrag heraus und erwirkten auf diese Weise erfolgreiche Unterlassungs- und Verleumdungsklagen. Da Tondokumente kaum korrigierbar seien, würden diese dann aus dem Netz genommen. Das feierten die Zeugen Jehovas als Triumph, so Obermayer.

So wie Obermayer konnte sich die junge Frau, die als Fünfjährige missbraucht wurde, mit Hilfe von The­ra­peu­t:in­nen und großer innerer Stärke von den Zeugen Jehovas lösen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Inhaltlich ist der Artikel aufschlussreich und erschütternd.

    Was mich stört, ist die wertende Bezeichnung "Sekte". Meiner Meinung nach verdienen die Zeugen Jehovas die Bezeichnung zwar, aber da sie wertend ist, würde ich mir in einem so sachbezogenen Bericht eine wertfreie Formulierung wie "religiöse Sondergemeinschaft" wünschen.