Sexualdelikte im ÖPNV: Der Belästiger vom Sitz gegenüber
Fast täglich notiert die Polizei sexuelle Belästigungen in Bussen und Bahnen. BVG und S-Bahn ermutigen Fahrgäste, Fälle anzuzeigen.
Was tun, als Frau, in so einer Situation? Schneller Blick nach rechts und links. Der Waggon ist fast leer, erst am anderen Ende sitzen wieder Fahrgäste. Aufstehen, umdrehen, weggehen. Wegsetzen in einen Vierersitz, wo schon eine andere Frau sitzt. Tief in die Jacke kriechen. Vielleicht war ja nichts, vielleicht gibt es eine andere Erklärung für seine Handbewegung als die, dass er sich gerade einen herunterholt.
Aber wenn doch: Soll er damit durchkommen? Nein. Also besser noch mal hingehen. „Was machen Sie da. Lassen Sie das“ sagen. Der Mann erwidert: „Was haben Sie? Ich mache nichts.“ Zweifel und Unwohlsein bleiben den Rest der Fahrt gleich stark, das Buch bleibt in der Tasche. Wer so ein Erlebnis am nächsten Tag erzählt, hört schnell ähnliche Geschichten. Von der Freundin, vor der an einem Sonntagmorgen in der U1 ein Mann masturbierte. Von einer 16-Jährigen im Bekanntenkreis, der Ähnliches passiert ist.
Knapp 300 Sexualdelikte hat die Berliner Polizei im vergangenen Jahr im ÖPNV, also in U-Bahnen, S-Bahnen, Tram, Bussen und in Bahnhöfen erfasst. Laut Polizei hängt es auch vom Eindruck der Anzeigenerstatter*in ab, ob ein sich entblößender und masturbierender Mann als sexuelle Belästigung oder als Exhibitionismus gewertet wird.
Tätliche Beleidigungen
Seit der Neufassung des Gesetzes zur sexuellen Selbstbestimmung im November 2016 wertet die Polizei allerdings auch „tätliche Beleidigungen“, also Grapschen und Tätscheln, als Sexualdelikt, die sie vorher unter „Beleidigung auf sexueller Grundlage“ erfasst hatte. Das mag eine Erklärung dafür sein, dass die Statistik für 2017 mit 295 Sexualdelikten weit mehr Fälle zu sexueller Belästigung im ÖPNV aufweist als 2016, wo die Polizei 156 Sexualdelikte registriert hatte und 170 „Beleidigungen auf sexueller Grundlage“ zählte. 2017 waren es 43 solche Beleidigungen.
Direkt vergleichbar sind die Zahlen für die vergangenen Jahre also nicht. „Wir sehen auch eine neue Haltung und ein Selbstbewusstsein von vielen Frauen, die sich Belästigungen nicht mehr bieten lassen wollen“, sagt Petra Reetz, Sprecherin der BVG. „Wir ermutigen alle Fahrgäste, solche Fälle anzuzeigen.“ Betroffene müssten außerdem nicht hilflos in der Situation verharren. „Es gibt auf jedem Bahnsteig einen Notrufknopf, wenn Sie dort drücken, sind Sie direkt mit einem Menschen bei uns in der Sicherheitsleitstelle verbunden. Dort sitzt auch rund um die Uhr ein Polizist“, sagt Reetz.
Die Mitarbeiter könnten die Videos der Überwachungskameras aus der Bahn oder vom Bahnhof sichern, sodass die Polizei sie später sichten könne. „Wir können nicht versprechen, dass die Menschen darauf zu erkennen sind, aber wir haben selbst ein großes Interesse daran, wenn zum Beispiel jemand immer wieder in der U1 unterwegs ist und Frauen belästigt, ihn anzuzeigen oder zumindest Hausverbot zu erteilen“, sagt die BVG-Sprecherin.
In den U- und S-Bahnen selbst gebe es an jeder Tür einen Knopf, über den Fahrgäste direkt Kontakt zu den Fahrer*innen aufnehmen könnten. Bei der S-Bahn rät man außerdem dazu, nachts in den ersten Wagen zu steigen und zur Not Fahrer*in oder andere Reisende anzusprechen.
„Die Fahrer können wiederum die Polizei verständigen – und auch mal die Fahrt verlangsamen, sodass die Bahn oder der Bus zeitgleich mit der Polizei an der Haltestelle ankommt“, sagt Reetz. Wer in Not gerate, sollte diese Möglichkeiten auch nutzen. „Es gibt aus unserer Sicht keinen Grund, abends und nachts die U-Bahn zu meiden.“
„Wir raten dazu, in der Situation laut und deutlich zu benennen, was los ist, und ‚Stopp!‘ zu sagen“, sagt Anita Eckhardt vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe. „Wir wissen aber auch, wie schwer das vielen fällt.“ Ein nächster Schritt könnte sein, Mitreisende anzusprechen. „Da hilft es auch, wenn Anwesende auf die Betroffenen zugehen und Hilfe anbieten, wenn ihnen etwas auffällt“, sagt Eckhardt.
Wer einen Übergriff erlebt habe, könne sich auch im Nachhinein an eine Beratungsstelle wenden. „Es muss gar nicht immer eine Anzeige sein, aber es hilft vielen Betroffenen, darüber zu sprechen und sich darüber klar zu werden, was sie brauchen oder beim nächsten Mal tun könnten“, sagt sie. „Auf keinen Fall sollte man denken: Das war nicht schlimm genug.“
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