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Sergej Lebedew über seinen neuen Roman„Oma hat unsere Geschichte zensiert“

Schweigen sei zutiefst sowjetisch, sagt Sergej Lebedew. Der Schriftsteller erzählt, wie er es mit seinem Buch „Menschen im August“ brechen will.

Autor Sergej Lebedew, 34. Foto: Jürgen Bauer

Russland 1991: Der Putsch gegen Gorbatschow tobt. Sergej Lebedews Roman erzählt davon, wie mit dubiosen Waffen- und Erdölgeschäften Millionen gescheffelt werden und Archäologen für Sammler illegales Beutegut beschaffen. Der Ich-Erzähler, der in diese Machenschaften verstrickt ist, entdeckt das Tagebuch seiner Großmutter und begreift, dass das Schweigen über die Vergangenheit gebrochen werden müsste.

taz: Herr Lebedew, Ihr Roman „Menschen im August“ erschien zuerst in deutscher Übersetzung. Lange sah es aus, als sei er russischen Verlagen zu heikel. Im Januar 2016 erscheint der Roman nun doch auf Russisch. Warum traut sich der Verlag Alpina das?

Sergej Lebedew: Das ist ein kleiner Verlag. Ich spreche direkt mit dem Verleger. Bei großen Häusern sind viele Leute zwischengeschaltet, was es kompliziert macht. Weil dann jeder sich vor denkbaren Problemen bewahren möchte – das macht es in jedem Falle leichter abzulehnen als zu akzeptieren.

Wie übt der russische Staat denn Druck auf Autoren aus?

Wenn Sie auf den Buchmarkt schauen, gibt es auf den ersten Blick viele Verlagshäuser, große und kleine. Aber das ist ein ganz falscher Eindruck. Ein großes Kartell kontrolliert drei Viertel des Marktes: Eksmo. Das gehört zwar nicht direkt dem Staat, aber der Kopf dieses Monsters ist ein Vertrauter der Regierung. Die Regierung hat, wenn ich das richtig verstehe, dieses Projekt konstruiert und gepusht.

Haben Sie versucht, diesem Verlag Ihr Buch zu verkaufen?

Ein Kartell ­kontrolliert drei Viertel des Buchmarktes. Der Kopf dieses Monsters ist ein Vertrauter der Regierung

Ja. Bei meinem Debütroman haben wir sogar zusammengearbeitet. Aber später, als es um den nächsten Roman ging, begannen die Versuche der Zensur.

In welche Richtung?

Zu dieser Zeit verhandelte das Parlament das Gesetz gegen sogenannte „Homosexuellen-Propaganda“. Mein zweites Buch, das es noch nicht als deutsche Version gibt, erzählt die Geschichte von Jugendlichen – die letzte Generation der Sowjetunion. Mein Verleger sagte mir: „Deine Charaktere sind zwar nicht schwul. Aber die ganze Atmosphäre, die du aufbaust, ist es. Ich meine es bloß gut mit dir: Bitte nimm das heraus. Unsere Leserschaft würde das nicht verstehen.“ Das war am Tag, nachdem das Gesetz in Kraft trat. Ich meinte: „Du hast doch bloß Angst vor diesem Gesetz. Und wenn ich nächstes Mal über Putin persönlich schreibe – was soll ich dann wohl erst rausstreichen?“ Danach hab ich meine Beziehungen zu diesem Hause abgebrochen.

War Ihnen klar, dass Ihre Figuren fürs Publikum schwul wirken könnten?

Der Schriftsteller Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren, wo er zurzeit lebt. Die Zeitung, für die er in den letzten Jahren schrieb, wurde während des Ukraine-Konflikts eingestellt. Zwei seiner drei Romane liegen auf Deutsch vor: „Der Himmel auf ihren Schultern“, S. Fischer, 336 Seiten, 19,99 Euro; „Menschen im August“, S. Fischer, 368 Seiten, 22,99 Euro.

Ja. Ja. Wenn man als Jugendlicher in seiner sexuellen Identität noch nicht gefestigt ist, zweifelt man und probiert halt Sachen aus. Für mich ist das keine große Sache. Aber nach dem Gesetz drehen alle durch.

Sie meinten das gar nicht als politischen Kommentar?

Nein. Ich schrieb es ja sogar vor dem Gesetz und hatte keine Idee, dass ein solches Gesetz kommen würde.

Obwohl es ja schon vor dem Gesetz in Russland Homophobie gab.

Ja, aber das Gesetz hat das enorm verstärkt. In den Neunzigern gab es quasi keine Homophobie in Russland. Sie kam parallel mit den verstärkten staatlichen Repressionen.

Warum werden Homosexuelle in Russland überhaupt als Staatsfeinde betrachtet?

Die russische Kultur des 20. Jahrhunderts ist nicht zu verstehen ohne die Lager-, Gefängnis- und Militärerfahrung. Dort gelten die Homosexuellen als die niedrigste Kaste. Als der Staat repressiver wurde, brauchte er eine Minderheit, um sie als verdächtige Immoralisten zu diffamieren. Wie in der Sowjetunion. Denn dann setzt auch das Gerede von moralischen Werten ein, die es zu verteidigen gelte.

Aber in Russland weiß man doch, dass der Staatsheld Tschaikowski schwul war.

Ja, sicher.

Wie kann die Star-Sopranistin Anna Netrebko mit Putin kungeln und am Abend eine Tschaikowski-Arie singen?

Weil solche Leute nach wie vor nicht weit vom Sowjet-Modus des Denkens sind. Sie sehen keinen Widerspruch darin, von einem Tag auf den anderen zwischen Standpunkten zu wechseln. In Russland denkt man etwa so: „Tschaikowski war zwar schwul, aber wir lieben ihn ja nicht deshalb. Wenn Sie ein Nationalheld sind, können wir eine ganz kleine Ausnahme machen. Aber bitte zeigen Sie es nicht und sagen Sie es bloß nicht weiter.“ Ich glaube, viele russische Künstler haben zwei Gesichter.

In „Menschen im August“ erzählen Sie von Figuren, die sich eine Sprache erfinden, in der sie reden können, ohne etwas zu sagen.

Ein Großteil der sowjetischen Kultur hat mit dieser Sprache des Schweigens zu tun. Oder der Sprache des Ersetzens.

Sie waren kaum zehn Jahre alt, als der Eiserne Vorhang fiel.

Ich bin ein spätes Kind der Sowjetunion. Ich wurde noch erzogen in der Vorstellung, in einer ewigen Sowjetunion zu leben. Es gab auch die Vorstellung, dass das Erbe des 20. Jahrhunderts eine unnötige Bürde für mich sei, die mir nur Ärger bescheren würde. 1991 merkten wir, dass sich etwas ganz dramatisch ändert. Meine Großmutter öffnete sogar eine Tür zur Vergangenheit. Bis dahin begann unsere Familiengeschichte nämlich erst 1917, nach der Revolution. Nie ein Wort über die Zeit davor. Mein Urgroßvater war ein hochrangiger Offizier der kaiserlichen Armee. Aber in unserer Wohnung gab es nur ein Foto mit ihm in der Uniform der Roten Armee, der er 1918 beitrat.

Die Zeit davor versteckte man.

Absolut. Erst 1991 öffnete meine Großmutter diesen Erinnerungsraum. Wir hatten sogar deutsche Ahnen, auch adelige und Emigranten, wie sich plötzlich herausstellte.

In Ihrem Roman gibt es ja auch eine Großmutter, die für ihren Enkel eine Fake-Historie fingiert.

Ja, das ist halb autobiografisch. Meine Oma entpuppte sich übrigens obendrein als professionelle Editorin. 40 Jahre lang arbeitete sie in einem politischen Verlag, auch an einer Lenin-Edition. Ich merkte dann, dass meine Oma auch unsere Familiengeschichte quasi als selbstzensierende Profi-Editorin geschrieben hat – immer mit dem Hintergedanken, unangenehme Nachfragen an die Vergangenheit zu unterdrücken. Nach dem ersten Staunen darüber, wie viel sie uns erzählte, kam das Staunen darüber, wie viel sie nach wie vor verschwieg.

Was verschwieg sie Ihnen?

Etwas Ähnliches wie es im Roman vorkommt: Mein Vater wurde 1941 geboren, als Kriegskind. Er traf niemals seinen Vater. Das war aber normal zu dieser Zeit. Deshalb hat er die Story meiner Oma wohl nie hinterfragt. Ich hingegen vermute ein dunkles Rätsel. Denn im Tagebuch gibt es Hinweise, dass er verschwand.

Haben Sie weiter geforscht?

All das passierte vor 70 Jahren. Es gibt keine Zeugen mehr. Selbst wenn sie noch lebten, würden sie alle Kraft aufbringen, um das Geheimnis zu bewahren. Es ist paradox, aber: Der einzige Weg, die Vergangenheit zu verstehen, ist es, einen Roman zu schreiben. Indem man fiktionalisiert, sich vorstellt, wie es gewesen sein könnte. Das ist mein Weg, mit der Vergangenheit zu verfahren. Mit der Vergangenheit, die aus Abwesenheit besteht.

Der namenlose Erzähler im Roman wird in illegale Aktivitäten mit Archäologen verwickelt nach dem Ende der Sowjetunion. Aber hauptsächlich scheint er nicht an Geld, sondern an Geschichten interessiert.

In den frühen Neunzigern, der Anfangszeit freier Wirtschaft, ließen sich viele verwickeln. Später, als sich der Goldrausch beruhigte, wurde klarer, dass diese Aktivitäten nur der Weg dazu waren, etwas anderes zu verstehen: Geld verdienen, um herauszufinden, wer man sein kann. Die frühen Neunziger waren scheinbar eine Märchenzeit ohne Limits. Es hieß: Jetzt oder nie. Zeitweise wäre man sogar sehr leicht in Archive gekommen, die jetzt wieder verschlossen sind.

Wenn Sie als Autor also nicht weiter recherchieren können, fiktionalisieren Sie. Aber wie führt Sie das näher zu den Antworten auf Ihre Fragen?

Ehrlich gesagt: Ich versuche ja nicht herauszufinden, was wirklich passiert ist. Nicht einmal ein Denkmal kann Erinnerung konstruieren, sondern bloß das kollektive Erinnern wachhalten. Und genau das haben wir in Russland verschlossen: das Feld gemeinsamen Erinnerns. Ich versuche, es zu rekonstruieren. Nur als Ausgangspunkt für zukünftige Autoren und Forscher. Ich suche nicht die endgültige Wahrheit. Ich werde nie verstehen, wer und wie mein Großvater war – oder eine andere Person dieser Zeit. Aber wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Erinnerung an sie gekappt wurde, beginnt man sozusagen zu verstehen, welche Kabel womit verbunden gewesen sein müssen. Das hat schon etwas von Geologie oder Archäologie.

Sie arbeiteten als Geologe.

Acht Jahre lang. Der Typ im Roman, der Zeugs für Sammler und Museen besorgt, bin zum Teil ich. Geologie ist eine spannende Angelegenheit: Durch Erdbeben verschiebt sich, was oben oder unten ist. An der Steilwand werden Sie all diese Bewegungen nicht auf den ersten Blick verstehen. Man hat ein Stück Felsen und muss sagen, wie er wohl vor etlichen Millionen Jahren beschaffen war. Eine großartige Detektivgeschichte. So erforsche ich die Veränderungen im historischen Material. Vielleicht verstehen Sie das Buch noch besser, wenn Sie es so betrachten.

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