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Selbstmord vorm ICE

■ Jedes Jahr werfen sich tausend Selbstmörder vor die Züge der Bahn

Berlin (taz) – Das wäre der Horror für die Deutsche Bahn, Schlagzeilen wie: „Vorm ICE ist es besonders schick.“ „Wir sind in großer Sorge vor Nachahmungstätern“, sagt ein Bahner. Deswegen soll das traurige Thema möglichst klein gehalten werden, auch wenn die Zahl erschreckend ist: Tausend Menschen im Jahr werfen sich vor Züge der Deutschen Bahn. Die Selbstmorde sind ein häufiger Grund für Verspätungen in der ansonsten fast perfekten Logistik der Zugverbindungen.

11. März, Spätnachmittag, der ICE über Mannheim nach Berlin schleicht nur noch auf der Strecke hinter Braunschweig. Die Durchsage: „Meine Damen und Herren, wir werden uns leider verspäten. Es gab einen Personenschaden im Gleis.“ Das ist der Bahnerterminus für Selbstmord. Nicht dieser Zug direkt ist betroffen, jemand hat sich irgendwo bei Helmstedt vor eine andere Lok geworfen. Der Freitod setzt eine Kette in Gang. Mit Hilfe von Computersystemen der Bahn werden nachfolgende Züge auf Nebenstrecken geleitet, wichtige Anschlußzüge auf den Umsteigebahnhöfen zum Warten veranlaßt. „Das ergibt einen Dominoeffekt“, erklärt Martin Katz, für den Personenverkehr zuständiger Sprecher bei der Deutschen Bahn. Der betroffene Zug selbst muß zwei, drei oder gar vier Stunden stehenbleiben, bis der herbeigerufene Staatsanwalt die Strecke freigibt. „Fremdeinwirkung“, genauer: Mord, soll ausgeschlossen werden.

„Meistens sind es junge Männer, die sich hier vor den Zug werfen“, erzählt ein Zugbegleiter, als ein ICE an einem Tag im Oktober von Berlin nach Köln auf dem Streckenabschnitt in Nordrhein- Westfalen von einem Selbstmörder gestoppt wird. Die Lebensmüden wollten „ganz sicher gehen“. Oft seien sie schwarz gekleidet, um nicht gesehen zu werden. Viele stellten sich aufrecht auf die Gleise, direkt vor den Zug. Ein sicherer Tod. Und einer, der Menschen belastet, die nichts mit dem Selbstmörder zu tun haben: die Lokführer.

30.000 Lokführer arbeiten bei der Deutschen Bahn. Bei durchschnittlich 1.000 Selbsttötungen im Jahr passiert es im Berufsleben eines Lokführers statistisch wenigstens einmal, daß er einen Selbstmörder überfährt. Überfahren muß. „Die Lokführer lernen schon in der Ausbildung, damit umzugehen, daß sie die Schiene nicht verlassen können, wenn ein Objekt vor ihnen auftaucht“, erklärt Christine Geißler-Schild, stellvertretende Sprecherin bei der Deutschen Bahn.

Eine Notbremsung braucht bei einem ICE in voller Fahrt bis zu einem Kilometer. Zu den Pflichten des Lokführers gehört es, nach einer solchen Bremsung auszusteigen und die Strecke zurückzugehen bis zum Unfallort. Theoretisch muß er sogar Erste Hilfe leisten. Dann informiert er über Funk die zuständige Leitstelle der Deutschen Bahn. Und wählt möglicherweise auch noch eine Art „Hotline“ zu seinem Heimatbahnhof. Dort arbeiten in der Zugdisposition rund um die Uhr Bahner, die auch mit Suiziderlebnissen vertraut sind. Oft sind es Lokführer, die selbst schon mal die gleiche Situation erlebt haben. In jedem Fall wird ein Ersatzlokführer gestellt. „Die allermeisten Betroffenen fahren weiter, wünschen sich aber eine Begleitung“, so Geißler- Schild. Danach können die Lokführer ein paar Tage Urlaub nehmen. Wer bei sich anschließend Streßsymptome feststellt, wendet sich an einen der zwölf psychologischen Dienste der Deutschen Bahn. Nur die wenigsten Lokführer wollten nach einem solchen Erlebnis die Tätigkeit wechseln. „Die Leute stecken das sehr unterschiedlich weg, aber die allermeisten machen weiter“, sagt die Sprecherin. Barbara Dribbusch

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