Seilbahnen in Lateinamerika: Skilifte gegen den Stau

In Medellín, in Caracas und nun auch in La Paz erfreuen sich Seilbahnen enormer Popularität. Sie sind saubere und leise Alternativen zum Autoverkehr.

Vorreiter: die Seilbahn in Medellín (Kolumbien). Bild: SajoR/Wikimedia CC-BY-SA

Iván Nogales lässt den Blick über den Talkessel schweifen. Der Himmel ist strahlend blau, der Illimani, der Hausberg von Boliviens Hauptstadt La Paz, schimmert schneebedeckt in der Sonne, und langsam kommt die gelbe Gondel den ersten Häusern näher. Nogales, ein kleiner Mann mit Hut und offenem Blick, schaut einer Frau beim Aufhängen der Wäsche auf der Dachterrasse zu. „Es ist wunderbar, über die Dächer von El Alto ins Tal von La Paz zu schweben. So lernt man die Stadt noch einmal neu kennen“, sagt der Theaterdirektor.

Er lebt in der Stadt El Alto, rund sechshundert Höhenmeter über dem Zentrum des benachbarten La Paz. Nur ein paar Häuserblocks entfernt von der knallgelben modernen Seilbahnstation Parque Mirador befindet sich das Kulturzentrum Compa, wo Nogales arbeitet. Das Zentrum mit Theaterbühne, Kino, Proben- und Wohnräumen ist ähnlich wie die neue Seilbahnstation ein Referenzpunkt in Ciudad Satélite. Es ist eines der ältesten Viertel von El Alto, von hier aus hat man einen prächtigen Blick über den engen Talkessel, in den sich La Paz zwängt.

„Eine zusätzliche Straße hätte man kaum bauen können. Dafür ist kein Platz“, sagt Nogales. Er lacht und deutet nach unten, wo sich zwischen Backsteinbauten schmale Straßen schlängeln; die Autos stehen im Stau. Neben Nogales sitzt Franklin Calle Escobar, ein Musiker, ihm gegenüber Alejandro, ein Schüler, der seit der Einweihung der Seilbahnlinie fast täglich mit Mi Teleferíco unterwegs ist. So heißen das Seilbahnsystem und auch die Betreibergesellschaft.

„Sie bieten einen zuverlässigen Service für einen günstigen Preis“, sagt Escobar, während Alejandro den Kopf etwas gelangweilt hinter dem Schulheft verbirgt. Die Betreiber haben mit ihrem Fahrpreis von drei Bolivianos, umgerechnet 30 Eurocent, einen Preis gewählt, der exakt zwischen dem für einen Minibus und dem für ein Sammeltaxi liegt. Das sei attraktiv, findet Nogales genauso wie Calle Escobar.

Initiiert hat den Seilbahnboom in Lateinamerika Medellín in Kolumbien. Seit 2004 wurden insgesamt drei Seilbahnlinien eröffnet, die marginalisierte Stadtviertel an das Zentrum anschließen. Ein Novum in Lateinamerika. 2010 kopierte Caracas das kolumbianische Vorbild. Heute ist die Seilbahn eine echte Transportalternative in den dicht besiedelten Städten des Subkontinents. In Rio de Janeiro gibt es sie, in Quito und auch in Lima. Bolivien scheint alle anderen Länder in den Schatten stellen zu wollen. Präsident Evo Morales kündigte jüngst die Installation weiterer fünf Linien in El Alto und La Paz an. Auch in Potosí und Ururo könnte sich bald ein Stahlseil zwischen zwei Stadtteilen spannen. (khe)

Die Gondel gleitet langsam in die Tiefe, in Richtung Sopocachi. Das ist eines der besseren Viertel von La Paz. Hier sind nicht nur mehrere Kulturinstitutionen der Regierung ansässig, sondern auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen. Nogales hat deshalb hin und wieder hier zu tun. Die Linea Amarilla, die gelbe Linie, ist seit ihrer Einweihung Mitte September 2014 für ihn die schnellere und angenehmere Alternative zu den Mikrobussen. Die Gondeln brauchen für die knapp vier Kilometer Luftlinie zwischen El Alto und dem südlichen Zentrum von La Paz etwa eine Viertelstunde. „Mit dem Kleinbus ist es oft eine Stunde, denn der Prado ist fast immer verstopft“, sagt Nogales.

Aufwertung zu Modellstädten

Der Prado, das ist die vierspurige Prachtstraße, die im Norden zur Autobahn nach El Alto und im Süden zu den besser situierten Vierteln wie Sopocachi und Obrajes führt. Nogales ist kein Freund der engen, Ruß ausstoßenden Kleinbusse, die sich von El Alto durch das Zentrum bis in den Süden von La Paz quälen. Er geht deshalb die 666 Höhenmeter von Ciudad Satélite nach Sopocachi auch gern zu Fuß hinunter. Das hat er als Student so gehalten, weil er Geld sparen musste, und anschließend, um fit zu bleiben. Der Ab- und der deutlich anstrengendere Aufstieg könnten aber künftig seltener werden.

Die gelbe Linie hat ein knallrotes Pendant, die Linea Roja. Sie verläuft weiter nördlich und verbindet das kommerzielle Zentrum von El Alto, die Feria 16. de Julio, mit dem alten Bahnhof am oberen Rand der Altstadt von La Paz. Hinter den stillgelegten Bahngleisen steht jetzt eine mit leuchtend roten Kunststoffplatten verkleidete Seilbahnstation. Ende Mai 2014 hat Präsident Evo Morales sie eingeweiht. Die dritte, grüne Linie dann am 4. Dezember. Seitdem verfügt die Metropolregion von La Paz und El Alto über eines der längsten Seilbahnnetze der Welt. 10,4 Kilometer lang ist es bisher, und es soll weiter ausgebaut werden. Millionen Menschen sind schon mit den Seilbahnen gefahren. „Es sind vor allem Pendler, aber auch Touristen. Für sie ist die spektakuläre Fahrt über die Dächer von La Paz ein Reisehöhepunkt“, sagt Torsten Bäuerlen.

Der 34-Jährige ist Projektmanager von Doppelmayr. Das Unternehmen aus Österreich ist mit dem Bau von Skiliften zum Weltmarktführer in Sachen Seilbahnbau aufgestiegen. Seit zwei Jahren ist er in La Paz für den Aufbau der drei Seilbahnlinien verantwortlich.

Umgerechnet 450 Millionen US-Dollar hat Finanzminister Alberto Arce in seinem Etat für 2015 eingeplant, um das Netz um fünf zusätzliche Strecken zu erweitern. „Wir wollen weitere Stadtteile mit der Seilbahn erschließen: Villa Fátima und Chuquiaguillo im Norden der Stadt genauso wie Villa Copacabana oder Pampahasi Chuco“, sagt der Minister. Wer heute aus einem dieser Viertel in die Innenstadt fährt, ist auf den überfüllten Straßen schnell eine Dreiviertelstunde unterwegs. Per Seilbahn könnte die Fahrt zwischen sieben und zwölf Minuten dauern, kalkulieren die Stadtplaner.

Für die ist die Seilbahn zur vollwertigen Verkehrsmittelalternative geworden. U- und S-Bahn-Systeme sind angesichts der bis zu tausend Meter Höhenunterschiede zwischen den einzelnen Stadtvierteln von El Alto und La Paz klar im Nachteil. Zwar hat die Seilbahn längst nicht die Kapazitäten einer U-Bahn, die rund 60.000 Passagiere in der Stunde transportieren kann. Die drei Seilbahnlinien können immerhin 18.000 Passagiere pro Stunde transportieren – aber sie benötigen kaum Platz, wirbt der Doppelmayr-Mann Bäuerlen für die Gondeln.

„Ahs“ und „Ohs“ in der Gondel

Die für ein Großprojekt kurze Bauzeit hat Boliviens Regierung derart begeistert, dass sie im kommenden Februar die neuen Verträge für die fünf zusätzlichen Linien mit Doppelmayr unterzeichnen will.

Das Ganze hat eine politische Dimension. Präsident Evo Morales schwärmt, dass La Paz und El Alto zu „Modellstädten“ Lateinamerikas geworden seien, weil die Bahn Menschen unterschiedlicher sozialer Realitäten zusammenbringt. Das sieht auch Nogales so. „In den Gondeln sitzen sich traditionell gekleidete Aymara-Frauen und Geschäftsleute, die am Flughafen von El Alto zu tun haben, gegenüber und kommen ins Gespräch“, sagt er.

Der Musiker Franklin Calle Escobar, der regelmäßig zwischen Sopocachi und der Station Parque Mirador in El Alto unterwegs ist, pflichtet ihm bei: „Da kommen sich die Einwohner zweier doch recht unterschiedlicher Städte näher“: das als arm, dreckig und kriminell verschriene El Alto und unten das gut situierte La Paz. Über die herumlaufenden Kinder oder weil die tolle Aussicht zu allerlei Ahs und Ohs Anlass gibt, kommen sich die Passagiere näher. Solche Situationen sind typisch in den blitzsauberen Gondeln, die zehn bis zwölf Fahrgästen Platz bieten und auch nach ein paar Wochen im Einsatz noch nach Kunststoff riechen. Auffällig ist, dass sich bislang keine Graffiti und Kratzer in den Plexiglasscheiben finden. „Die Menschen sind stolz auf ihre Seilbahn und achten auf sie“, glaubt Nogales.

Der Name „Meine Seilbahn“ – wie Mi Teleferíco übersetzt heißt – scheint in Bolivien nicht nur eine Marketingstrategie zu sein.

Zehn Millionen Fahrgäste

Das ist eine Parallele zu anderen Standorten von Doppelmayr in Caracas oder in Rio de Janeiro. Dort sorgen – ähnlich wie in Bolivien – schwebende Gondeln dafür, dass marginalisierte Stadtteile mit dem Zentrum verbunden werden. „Für die Menschen ist das ’ihre‘ Bahn. Mit der wird sich auseinandergesetzt“, sagt der Projektmanager Bäuerle. Sein Eindruck deckt sich mit den Posts, Fotos und Berichten, die auf Facebook und anderen Seiten über Mi Teleférico zu finden sind.

Hugo Cervantes, der zehnmillionste Fahrgast, wurde vor ein paar Tagen geehrt. Kaum jemand hätte mit derart vielen Fährgästen in so kurzer Zeit gerechnet – weder bei Doppelmayr noch bei der Regierung in La Paz. Iván Nogales dürfte zum regelmäßigen Nutzer der Gondeln werden. Er hat die Fahrkarte für die Rückfahrt nach El Alto schon in der Tasche.

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