Seenotretter über Hilfsmissionen: „Eine andere Art von Befriedigung “
Unternehmer Andreas Steinert war immer auf der Suche nach „coolen Geschäften“. Jetzt sammelt er für die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln.
taz: Herr Steinert, Ihr Verein „Wir packen’s an“ sammelt Sach- und Geldspenden für Flüchtlinge auf griechischen Inseln. Was wird zurzeit am dringendsten benötigt?
Andreas Steinert: Wir bereiten uns jetzt auf die Wintersaison vor, es geht also vor allem um warme Anziehsachen, Decken, Zelte, Isomatten. Aber auch um Hygieneprodukte, von der Zahnbürste bis zum Duschbad, Rasierzeug, Windeln und dergleichen. Wir sammeln inzwischen auch Taschenlampen. Man denkt ja erst nicht, dass so etwas überlebenswichtig ist, aber wenn die Leute im Wald hausen ohne Elektrizität, ist Licht nicht unwichtig.
Sie hausen im Wald?
Ja. An der sogenannten Balkanroute sind inzwischen sehr viele Leute gestrandet, und die meisten leben nicht einmal in Camps von Hilfsorganisationen, sondern in den Wäldern, im sogenannten Jungle. Da gibt es gar keine Versorgung, da guckt derzeit niemand hin, darum wollen wir dort jetzt aktiv werden. Und wir wollen auch Sachen nach Nord-Syrien schicken, dahin haben wir Verbindungen durch eine Gruppe ehemaliger Flüchtlinge. Gerade sind wir dabei, die ersten Paletten dorthin zu schicken.
Der Mann: Steinert wird 1973 in Ostberlin geboren. Eigentlich will er Jurist werden, aber weil die Noten nicht reichen, beginnt er 1989 eine Kochlehre. Zusammen mit Eltern und Bruder kauft er 1990 das Ausflugslokal „Carlsburg“ in Falkenberg, als zweites Standbein kommt ein paar Jahre später die „Deko-Scheune“ in Bad Freienwalde dazu. Steinert ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
Sein Engagement: Im Zuge des „Flüchtlingssommers“ 2015 wird Steinert in der Seenotrettung aktiv, fährt 2017 bei zwei Missionen der Organisation Sea-Eye mit. Ende 2019 startet er einen Spendenaufruf für Flüchtlinge auf den griechischen Inseln, kurz darauf gründet er zusammen mit zwei Freunden aus der Seenotrettung den Verein „Wir packen’s an“. Der unterstützt mit seinen Spenden Partnerorganisationen in Griechenland, die in und um Flüchtlingscamps auf den Inseln Chios und Samos arbeiten, aber auch in den Städten Patras und Athen. Mit Geldspenden wurde zudem auf Chios eine Krankenstation eingerichtet. In diesem Winter will „Wir packen’s an“ auch in Bosnien und Nord-Syrien aktiv werden. Kürzlich hat der Verein für sein Engagement den mit 10.000 Euro dotierten 2. Preis beim Smart-Hero-Award bekommen.
Die Spenden: Welche Sachspenden „Wir packen’s an“ aktuell benötigt, steht auf der Spendenliste, die man unter www.facebook.com/nothilfebb finden kann.
Auch Geldspenden werden dringend benötigt, um die Lkw-Transporte zu finanzieren. Mehr Infos: www.wir-packens-an.info (sum)
Organisationen vor Ort sagen Ihnen, was die Leute benötigen?
Ja, das haben wir aus unserer ersten Aktion im Januar gelernt. Da hatten wir gerade angefangen und uns noch keine richtigen Gedanken gemacht, sondern einfach drauflos gesammelt, was in den Winter passen könnte. Daher gab es im Frühjahr für manches, was wir hatten, keinen Bedarf mehr, etwa für Frauenkleidung. Davon hatten wir einfach zu viel! Im Sommer waren darum meine VorstandskollegInnen Miriam Tödter und Axel Grafmanns auf den Inseln, Axel auch nochmal nach dem Brand in Moria, und haben alle unsere Partnerorganisationen nach ihren Bedarfen befragt. Daraus ist unsere große Sammelliste entstanden, mit der wir jetzt im Internet um Spenden bitten. Frauenkleidung ist zurzeit nicht dabei, davon gibt es in den Camps immer noch genug.
Das ist ja logistisch eine ganz schöne Herausforderung. Machen Sie das allein?
Gott sei Dank, nein. Am 29. Februar haben wir uns gegründet mit den 7 Leuten, die nötig sind, um einen Verein zu gründen. Inzwischen sind wir über 60 Leute, viele von ihnen packen mit an, ein Kern von 15 Menschen ist wirklich sehr, sehr aktiv. Sie kommen aus der ganzen Bundesrepublik, das ist nicht mehr nur eine berlin-brandenburgische Geschichte, von Sylt bis Würzburg haben sich uns Leute angeschlossen. Manche machen Social-Media-Arbeit, andere Fundraising und so weiter. Was die Logistik betrifft, da spielt sich schon das meiste bei mir in Bad Freienwalde ab. Zwar sammeln wir die Spenden jetzt nicht mehr in meinem Lager, da meine Firma geschäftlich mit Weihnachtsartikeln zu tun hat und den Platz im Moment selber braucht, aber wir haben in der Nähe eine Lagerhalle angemietet. Da kommen jetzt die Spenden an. Und zwar inzwischen so viele, dass ein Paketwagen von der Post täglich nur zu uns kommt.
Was bringt der so?
Im Moment sind es jeden Tag 40 bis 50 Pakete. Letzten Samstag hatten wir unseren ersten Sortiertag, da waren 20 bis 25 Leute da und hatten gut zu tun. Wir bekommen ja auch große Zustellungen von unseren Sammelstellen in ganz Deutschland, allein in Berlin gibt es etwa 10, wie hier das Frauenzentrum Paula Panke. Also, in den ersten Tagen unserer neuen Sammelaktionen kamen schon Waren für eineinhalb Sattelzüge zusammen. Das sind 35 bis 40 Euro-Paletten voll.
Wie kamen Sie eigentlich zu der Idee mit den Hilfsgütern?
Tatsächlich habe ich mich vor 2015/16, als die große Migrationswelle kam, nicht in dem Bereich engagiert. Ich bin zwar politisch interessiert, war aber selber nie aktiv. Doch damals kamen immer mehr Nachrichten, dass massenhaft Leute im Mittelmeer ertrinken. Das hat mich sehr bewegt, und ich habe mich kundig gemacht. Damals wurden die ersten Seenotrettungsorganisationen gegründet und so habe mich bei Sea-Watch beworben. Ich bin gelernter Koch, habe einen kleinen Führerschein für Boote, bin auch schon öfter mit einem Schiff gefahren, ansonsten kann ich anpacken! Sea-Watch hat mich zwar nicht genommen, aber bei Sea-Eye hat es dann geklappt. Ich habe ein paar Trainings absolviert und bin dann 2017 auf Mission gefahren, zwei Mal für drei Wochen.
Ein krasser Sprung, gleich in die Seenotrettung!
Ja, das waren sehr heftige Missionen, die ich erlebt habe. Wir sind vor den libyschen Hoheitsgewässern patrouilliert. An einem Wochenende waren Tausende Menschen in Seenot geraten. Die Bilder des Elends der Menschen vergisst man nie wieder! Auch ihre Geschichten lassen dich nicht mehr los. Als ich zurückkam, hatte ich echte Schwierigkeiten, wieder in die Arbeit zu finden. Geholfen hat mir, dass ich mich zu Hause weiter engagiert habe. Ich bin bei Sea-Eye eingetreten, habe in Berlin die Regionalgruppe mit gegründet und war bis Ende letzten Jahres dort aktiv. Und dann habe ich am 24. Dezember diese Sendung gesehen.
Was war das?
Eine Reportage aus dem Camp auf Samos, wo kurz zuvor ein Hilfsmitteldepot abgebrannt war und die Menschen im einbrechenden Winter buchstäblich ohne alles dastanden. Damals hatte Grünen-Chef Robert Habeck die Diskussion angezettelt, dass man zumindest die Kinder aus den Flüchtlingslagern rausholen müsste. Mir kam da die Idee, dass man für diese Menschen wenigstens Sachen sammeln könnte. Schließlich habe ich ein Lager, das nach dem Weihnachtsgeschäft auch relativ leer ist. Ich startete also über meinen Facebook-Account einen Aufruf, dachte, vielleicht kommen ja ein paar Paletten zusammen, die man schicken kann. Aber ich war erst nicht sehr optimistisch.
Wieso?
Wir sind in Bad Freienwalde, also tiefstes Ostbrandenburg, und haben in der Gegend zwischen 20 und 30 Prozent AfD-WählerInnen. Da war ich mir nicht so sicher, wie das Feedback auf eine Sammlung für Flüchtlinge sein würde. Aber dann wurden meine späteren Ko-Gründer, Axel Grafmanns und Miriam Tödter, auf unsere Idee aufmerksam. Ich kenne Axel aus der Seenotrettung, er war vier Jahre lang Geschäftsführer bei Sea-Watch. Beide haben unseren Aufruf bei Facebook geteilt, zusammen mit einem selbst gemalten Schild, auf dem stand: „Macht den Truck voll“. Der Beitrag wurde Hunderte Male geteilt, die Hilfsbereitschaft explodierte. So fing alles an.
Wie kriegen Sie Geschäft und Familie unter einen Hut?
Na ja, das Geschäft kann ich nicht schleifen lassen, wir haben ja auch Verantwortung für unsere Mitarbeiter. Aber für Freizeit und Familie bleibt gerade keine Zeit, oft komme ich erst nach Mitternacht nach Hause. Auf Dauer geht das natürlich nicht, zum Glück tragen meine Frau, die Kinder und der Rest der Familie das bislang mit. Und offen gesagt steht das Geschäft für mich jetzt nicht mehr so im Mittelpunkt wie vorher. Ich bin ja wie gesagt Koch und habe mich gleich nach der Wende selbstständig gemacht: Coole Geschäfte machen, Neues ausprobieren, expandieren war immer mein Ding. Die Seenotmissionen haben mir aber ein Gefühl dafür gegeben, dass Helfen eine ganz andere Art von Befriedigung bringt als Geschäfte machen. Das lässt mich nicht mehr los.
Apropos AfD: Haben Sie auch Gegenwind bekommen in Bad Freienwalde?
Erstaunlicherweise nicht. Wir haben nur positives Feedback bekommen, bis auf vereinzelte anonyme Kommentare bei Facebook. Das ist ein schöner Nebeneffekt, dass zum Helfen viele sehr unterschiedliche Menschen aus dem Städtchen zusammenkommen. Viele haben uns gesagt, sie wollten schon länger etwas tun, wussten nur nicht, wie. Jetzt kommen sie mit ihren Spenden vorbei oder zum Sortieren, manche einmal für ein bis zwei Stunden, manche immer wieder. Diese Welle der Solidarität hat uns offen gesagt überrascht, man denkt eben zuerst an den rechten, flüchtlingsfeindlichen Osten, aber dann haben wir uns natürlich sehr gefreut. Es gibt schon viele, die in unsere Richtung laufen.
Sind Sie in Bad Freienwalde aufgewachsen?
Nein, in Berlin-Lichtenberg. Meine Eltern sind ursprünglich aus Halle – und fürs Jurastudium nach Berlin gekommen. Ich wollte auch immer Jurist werden, aber das hat mit den Noten nicht gereicht. Mein Bruder hatte eine Lehre als Koch begonnen, das fand ich auch interessant und habe dann denselben Weg eingeschlagen. 1989 habe ich in Pankow meine Lehre angefangen. Und weil ich mit meinem Bruder früher immer rumgeflachst hatte, dass wir zusammen eine Nudelbar aufmachen wollten oder so was, sind wir nach der Wende öfter mit dem Motorrad rausgefahren und haben uns in der Ecke von Bad Freienwalde, wo meine Tante herkommt, umgeschaut, ob wir nicht ein Objekt finden, das wir mieten oder kaufen können. Wir haben uns alles Mögliche angeguckt und so die Carlsburg gefunden. Das war seit 200 Jahren ein Ausflugslokal und auch zu DDR-Zeiten sehr bekannt. Es war aber ganz runtergewirtschaftet und damals geschlossen.
Und Sie haben es von der Treuhand gekauft?
Zuerst gehörte es der HO, später ging es in die Treuhand. Mein Bruder und ich haben schnell gemerkt, dass wir so ein großes Ding nicht alleine stemmen können, ich war 17, er 23, wir hätten ja nirgendwo einen Kredit bekommen. Also haben wir unsere Eltern gefragt.
Was haben sie gesagt?
Mein Vater war Völkerrechtler an der Humboldt-Uni und meine Mutter Richterin, in dem Bereich wurde nach der Wende ziemlich ausgefegt. Also wollten meine Eltern eine Kanzlei aufmachen – eine Kneipe schwebte ihnen nicht so vor. Aber als sie gesehen haben, dass es die Carlsburg ist und ein schönes Projekt, in dem man aufgehen kann, haben sie angebissen. Wir haben den Laden zwei Jahre lang saniert, die HO hat die Rechnungen bezahlt und unser Gehalt, und am Ende sollten wir das Lokal pachten.
Nicht kaufen?
Nein, die HO wollte dieses Schmuckstück natürlich behalten. Aber dann übernahm ja bekanntlich die Treuhand, alles wurde abgewickelt und sollte privatisiert werden. Da sahen wir schon unsere Felle davonschwimmen.
Wieso?
Die Treuhand wollte an den Meistbietenden verkaufen, da hätten wir kaum mithalten können. Aber mein Vater ist denen aufs Dach gestiegen, er ist 137 Mal bei der Treuhand vorstellig geworden, das hat er genau protokolliert – und am Ende haben wir das Restaurant doch bekommen. Wir waren tatsächlich der erste Gastronomiebetrieb der DDR, der 1990 in private Hand gegangen ist. Allerdings hatten wir nicht einkalkuliert, dass die Leute nach der Wende für alles Mögliche Geld ausgegeben haben – nur nicht fürs Essen.
Der Laden lief nicht gut?
Die ersten Jahre überhaupt nicht, wir mussten im Winter in Berlin jobben gehen. Wir haben alles Mögliche probiert, ein zweites Restaurant, eine Bowlingbahn. Meine Mutter hat damals angefangen, in der Carlsburg Dekoration aufzustellen. Eigentlich nur fürs Restaurant, aber es kamen immer mehr Gäste, die das Zeug kaufen wollten. So fing das mit dem Deko-Handel an, die Leute haben uns alles aus den Händen gerissen, was wir aufgestellt haben. Dann ging es richtig los. Wir haben eine Immobilie gekauft und unsere erste Deko-Scheune eingerichtet, immer größere Mengen eingekauft. 2002 sind wir in den Großhandel eingestiegen, ich bin nach Thailand und China gereist, habe Kontakte zu Herstellern geknüpft und die Sachen selber importiert. Bis 2009 lief die Sache sehr gut, wir hatten über 500 Kunden, auch Ketten wie Rewe. Aber das ist nach der Finanzkrise ziemlich in den Keller gegangen, und wir mussten den Großhandel wieder aufgeben. Seither backen wir etwas kleinere Brötchen. Und sind mit den zwei Geschäften – Restaurant und Deko-Scheune – auch sehr zufrieden.
Aber hilfreich sind solche Erfahrungen schon für den Verein, oder?
Ja, natürlich, das ganze Organisieren, Sachen beschaffen, Transportieren, das Geschäftliche liegt mir sehr. Aber zum Glück haben wir im Verein viele Talente: Meine Vorstandskollegen Axel und Miriam kommen aus der Menschenrechtsarbeit, sie wussten, wie man einen Verein gründet, sie können Pressearbeit, haben politische Kontakte. Andere Mitstreiter bringen andere Expertisen mit. Das hilft uns jetzt sehr, den Verein breiter aufzustellen, wie wir auf unserer Mitgliederversammlung kürzlich beschlossen haben. Wir wollen nicht mehr nur Pakete packen, also Nothilfe machen, sondern mehr politische Arbeit.
Das heißt?
Wir haben ja schon auf Demonstrationen, etwa von Seebrücke, Redebeiträge gehalten, auch selbst Demos organisiert und Flashmobs, wir haben Petitionen beim Bundestag eingereicht, Politiker getroffen. In diese Richtung wollen wir mehr machen. So haben wir für den 1. Advent ein Weihnachtssingen vor dem Reichstag angemeldet mit mehreren Chören und verschiedenen Musikern. Das soll kein normales Weihnachtssingen sein. Es soll darum gehen, dass in den Camps immer noch Tausende Kinder leben. Dass diese Lager in Gänze aufgelöst werden müssen! Darum haben wir drei Lieder umgetextet, darunter „Ihr Kinderlein, kommet“ und „Lass sie rein“ von Stoppok. Jetzt rufen wir mit der Organisation Europe Must Act dazu auf und hoffen, dass zum Singen mehrere tausend Leute kommen und wir ein Zeichen setzen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Der alte neue Präsident der USA
Trump, der Drachentöter
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens