Seeleute in der Corona-Krise: In Blechbüchsen auf See eingesperrt
Die Männer und Frauen auf den Container- und Massengutschiffen sind während der Coronapandemie an Bord kaserniert – und das auf unbestimmte Zeit.
Täglich ist Hille, ein kräftiger Mann mit metallgerahmter Brille und grau meliertem Kinnbart, zwischen den Terminals und Kais im Hamburger Hafen unterwegs. In Waltershof, nur einen Steinwurf vom Eurogate-Terminal, steht sein Schreibtisch im Seemannsklub „Duckdalben“. Dort koordiniert er täglich bis zu zwei Dutzend Bordbesuche. „Der Klub ist zwar seit dem 23. März geschlossen, aber wir lassen die Seeleute an Bord nicht im Stich“, sagt er und setzt seinen Rucksack an Deck des Frachters ab.
Als erstes zieht Hille die Aufladekarten für die Mobiltelefone, dann die Bestellliste hervor und legt sie auf einen Poller an Deck. Seit Anfang März ist den Seeleuten der Landgang und damit der Besuch im Seemannsklub verwehrt. Die Klubs sind so etwas wie Tankstellen fern der Heimat: Her bunkern die Seeleute Telefonkarten, Schokolade, Chips und Co. für die Zeit auf See. All das und etwas mehr hat Hille dabei. Das wichtigste im Rucksack und den Rest im VW-Bus unten an der Kaikante.
Der wachhabende Matrose, mittlerweile mit Maske über Mund und Nase, hat Crew und Offiziere per Funk über den Besuch des Seemannsdiakons informiert. Bootsmann Nicanor Cadeliña ist als erstes an Deck, begrüßt Hille und fragt ihn leise in holprigem Englisch, ob er ihm auch eine Lesebrille besorgen könne. Die Antwort fällt positiv aus. Über das gegerbte Gesicht des philippinischen Seemanns huscht ein Lächeln, als Hille ihn auffordert, Name und Dioptrien-Zahl auf der Bestellliste zu notieren.
Offiziere zuerst
Dann wird es lebendig an Deck. Die ersten Crew-Mitglieder in ihren orangefarbenen Overalls mit dem Aufdruck der Reederei werfen einen Blick auf die Bestelllisten, machen dann Platz für die Offiziere in sportlicher Freizeitkleidung. Die Besatzung besteht aus 19 Männern: 14 von den Philippinen und fünf Offiziere aus der Ukraine, Russland und der Türkei, so Bootsmann Cadeliña.
Der kleingewachsene, kräftige Mann mit den ersten grauen Strähnen im pechschwarzen Haarschopf wartet, bis die Offiziere sich mit den Telefonkarten versorgt haben. Die Hierarchien an Bord sind streng. Gut fünf Monate sind Bootsmann Cadeliña und Matrose Iven Delgado an Bord des Frachters unterwegs. Kohle haben sie nach Europa gebracht und hoffen, Ende Mai, wenn die Verträge auslaufen, wieder zurück zu ihren Familien auf die Philippinen zu kommen.
Doch die Chancen dafür stehen schlecht und das weiß auch Cadeliña. Denn die Philippinen haben ähnlich wie Indien, beides wichtige Seefahrernationen, ihre Grenzen komplett dichtgemacht. In Manila sitzen Seeleute fest, die Kollegen hätten ablösen sollen. Der Crew-Wechsel ist derzeit das gravierende Problem in der Seeschifffahrt.
Weltweit sitzen laut der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) rund 150.000 Seeleute auf den Frachtschiffen zwischen Hamburg und Haiti fest, weitere 150.000 an Land. Letztere kommen nicht an Bord, um ihre Heuerverträge zu erfüllen, sagt ITF-Inspekteur Sven Hemme aus Bremerhaven. „Die Seeleute sind heutzutage nahezu unsichtbar, sie wurden schlicht vergessen, obwohl ohne sie der Nachschub zusammenbrechen würde. Wir brauchen politische Lösungen“, so der 41-jährige am Telefon vor dem Bordbesuch.
Das weiß auch die Crew an Bord des Kohlefrachters. Die Unsicherheit nagt an ihnen und die Kommunikation mit den Familien ist jetzt noch wichtiger als gewöhnlich. Aufladekarten, um zumindest im Hafen ins Internet zu kommen, um mit der Familie zu skypen, sind extrem wichtig. Nicht nur im Hamburger Hafen gibt es keinen freien Internetzugang, und auf See läuft die Kommunikation über teure Satelliten. Da habe die Crew bestenfalls beschränkten Zugang, sagt Hemme.
Kasernierung an Bord lautet die bittere Realität für rund 1,7 Millionen Seeleute, die weltweit im Einsatz sind. Sie sorgen dafür, dass von Autoteilen über Steinkohle bis zum T-Shirt alles weltweit verfügbar ist. Ohne sie würden die Produktionsprozesse ins Stocken geraten, Nahrungsmittel genauso wie Benzin knapp werden.
Doch an die Transportarbeiter auf hoher See hat kaum jemand gedacht, als die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus beschlossen wurden. Nun sind sie auf den Blechbüchsen eingesperrt, jeden Tag die gleichen Gesichter, die immer gleiche Messe, Schoten, Aufgänge und Kabinen. Ein Seemannsdiakon wie Hille ist dann eine mehr als willkommene Abwechslung.
Gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Reedern macht die Seemannsmission auf die prekäre Situation an Bord aufmerksam, die Diakone und Diakoninnen registrieren die Missstände an Bord am ehesten. Das funktioniert während der Coronapandemie nur noch bedingt, denn die vertraulichen, seelsorgerischen Gespräche in der Messe sind gestrichen, Handschuhe und Maske sorgen für zusätzliche Distanz.
Heute erfährt Hille nebenbei, dass Masken an Bord knapp sind, und Iven Delgado nutzt die Chance, Hille zum VW-Bus zu begleiten, um Chips einzukaufen: „Bisher wissen wir nicht, wie es weitergeht. Ob die Ablösung kommt, ob wir an Bord bleiben und ob die Verträge verlängert werden“, klagt er. Das gehe den meisten von der Crew so. Hille drückt ihm den Flyer von der neuen Chatplattform der Seemannsmission in die Hand, und bittet ihn, sich später online zu melden.
Seit vier Wochen ist die Chatplattform dms.care nun im Netz. Dort können sich Seeleute wie Delgado zum vertraulichen Gespräch einloggen. Eine neue Option, um den Kontakt an Bord zu halten und über Sorgen zu sprechen. Die sind mit der Pandemie größer geworden.
Dann verabschiedet sich Diakon Hille von Delgado, kündigt seinen Folgebesuch für den späten Nachmittag an und steigt in den Bus. Zurück im Duckdalben wird er die Kollegen von der ITF kontaktieren. Die können sich am besten um die Verlängerung der Arbeitsverträge kümmern. Für Delgado und Cadeliña wäre das eine Sorge weniger.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz