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Scudetto für NapoliNeapel, ein Volksmärchen

Die erste Fußballmeisterschaft des SSC Neapel seit 33 Jahren ist der Triumph einer gereiften Stadt, die ihre Ecken und Kanten behalten hat.

Rausch, Rauch, Rambazamba: Fußballfans feiern den Titel in Neapel Foto: Guglielmo Mangiapane/reuters

Die Liebe empfängt als Vorbotin, noch bevor der Bus Nea­pel erreicht hat. Schon in den Vorstädten sind die Mietshäuser in blau-weiße Bänder gekleidet, die Balkone mit Fahnen übersät: SSC Neapel, Diego Maradona, Argentinien. Wer keine Fahne hat, hängt blau-weiße Bettlaken raus, zur Not tut es auch eines von den Schlümpfen. Es ist ein ganz normaler Samstag in Neapel, nicht mal ein Spieltag, und knapp eine Woche bevor der Titel rechnerisch feststehen wird. Aber die ganze Stadt ist in Fußball gekleidet. Seit Wochen feiert die Heimatstadt des weit enteilten SSC Neapel den dritten Titel für die Männer, mit viel weniger Geld als die Konkurrenz errungen, und seit Wochen lassen deutsche Medien Reportagen aus Neapel schreiben.

Die erzählen entweder, dass Neapel so ist, wie man das immer schon dachte (Armut, Camorra, Maradona), oder, klar, völlig anders. Seit Donnerstagabend ist nach einer atemberaubenden Saison und einem 1:1 in Udine auch rechnerisch alles klar. Wer vom aktuellen Fußball zynisch geworden ist, kann sich als Therapie an verwackelt-nebligen Handyvideos liebender Fans im Delirium sattsehen. Neapel ist eine gute Protagonistin für Fußballgeschichten. In etwa so, als würde eine Schimäre aus Union Berlin und Schalke 04 deutscher Meister werden, mit Maradona-Mythos obendrauf. Aber was heißt das alles?

Wie gesagt, Neapel am Samstag, fünf Tage bevor der Titel geschieht: Rosario steht hinter dem Tresen seiner Bar und sagt: „Es ist, als hätten wir den Krieg gewonnen.“ Er meint das ernst, und er meint den politischen Krieg, das italienische Nord-Süd-Gefälle. „Im Norden schauen sie herab auf uns. Aber wir haben das Unmögliche geschafft.“ Und weiter: „Ein Titel für uns ist so viel wert wie zehn Titel für den Norden“, ergänzt der alte Vincenzo, der in den 80er Jahren mal eine Dauerkarte hatte und schon Maradona spielen sah. Seit 20 Jahren ist Rosario Inhaber einer kleinen Bar zwischen Bahnhofs- und Hafenviertel, in der jeder jeden kennt.

Hier ist die Metropole eine betörend lebendige, schäbige, multikulturelle Stadt und die Kulisse all der Mezzogiorno-Mafia-Klischeegeschichten: abblätternde Fassaden, chaotisch hupender Mopedverkehr, Graffiti, bunte Märkte, pakistanische Halal-Shops, arabische Frisöre, überquellende Müllcontainer. Die Männer in der Bar finden, in diesem hässlichen Viertel solle die Reportage lieber nicht stattfinden, warum gehst du nicht in die schönen Quartieri Spagnoli? Neapel soll gut aus­sehen. Dabei sieht es hier gut aus. Überall blau-weißer Schmuck, selbstgeschriebene Banner in den Häuserschluchten mahnen zum Durchhalten: „Nicht lockerlassen, wir haben einen Traum im Herzen“.

Todesfall bei Feierlichkeiten

Vor der Saison, sagt Vincenzo, hätte niemand das hier erwartet. Wie so oft musste der SSC gute Spieler verkaufen, und die Namen der neuen, die jetzt gefeiert werden, kannten nur Nerds. Nun strömen Millio­nen in die Stadt, um den Titel mitzufeiern, was am Donnerstag zu Chaos, vielen Verletzten und leider auch einem Todesfall führte.

„Neapel den Neapolitanern“, befindet Vincenzo. „Die Peripherie, die Leute auf den Feldern, wollen sich jetzt als Teil des Erfolgs fühlen. Aber wo waren diese Leute, als wir in der Serie B gespielt haben?“ Ein Titel für den Süden, ja, aber übermäßig teilen wollen sie ihn auch nicht.

Lazio Rom war bis zuletzt das einzige Team mit noch theoretischen Chancen auf den Titel, aber hier reden sie nur von Juventus. Das verhasste Juventus, dem trotz Finanzskandal 15 abgezogene Punkte wieder gutgeschrieben wurden. „Alle bevorzugen Juve: die Justiz, die Schiedsrichter, die Medien“, sagt Rosario. „Juve kontrolliert das System. Und die Presse bevorzugt den Norden. Wenn in Neapel ein Portemonnaie gestohlen wird, steht das sofort in der Zeitung. Wenn dasselbe in Turin passiert, nicht.“ Es ist ein Triumph gegen ein ganzes System gefühlter und realer Ungerechtigkeiten. „Das hier ist ein Sieg des Volkes.“

Das Volk, das diesen Triumph feiert, ist ausnahmsweise wirklich so vielfältig, wie man das vermutet. Ein Gast erzählt von einem Freund, der letzte Woche verstorben sei. „Da hat er zu seiner Frau und den Kindern gesagt: Hängt Fahnen auf und holt Trommeln. Geht feiern für Napolis Titel, auch wenn ich nicht mehr dabei sein kann.“ Eine Frau hat ihre kleine Tochter, die noch nicht einmal läuft, gerade mit Mini-Trikot eingedeckt. Ein anderer sitzt da, der eigentlich in Frankfurt Wurzeln geschlagen hat, in Neapel lebt er nur zum Arbeiten. Was ihm dieser Titel bedeutet? „Nix“, antwortet er trocken auf Deutsch. Und zeigt dann doch ein Handyvideo von einem Friedhof in der Nähe. Kein echter, sondern angelegt von Neapel-Fans, geschmückt mit Kreuzen, für jeden gegnerischen Klub eines. „Weil wir die Besten Italiens sind.“

„Erwachsen geworden“

Bei allem Stolz, ein reiner Underdog ist Neapel dennoch nicht. „Die Stadt ist erwachsen geworden“, so drückt es Wirt Rosario aus. „Sie hat die Bedeutung des Tourismus erkannt.“ Längst sind die hippen Viertel voll von Reisenden aus ganz Europa. Auch dafür sei der Titel wichtig, Millio­nen kommen für den SSC. „Für die Neapolitaner ist der Tourismus eine Chance: In den Quartieri Spagnoli erfinden die Leute sich jetzt Berufe. Sie verkaufen ihr Obst, Fanartikel oder Folklorezeug an Tourist:innen, die stehen auf so was.“ Das findet er gut, eine Aufstiegschance in einer Stadt mit wenig Industrie. Die Meisterschaft ist auch Ausdruck eines neuen Stolzes. Eines Neapel, das um seine Qualitäten weiß.

Der Wandel in der Hafenstadt ist mit jedem weiteren Schritt nach Westen spürbar. Entlang des Hauptboulevards Corso Umberto I hat Neapel sich herausgeputzt. Sorgsam restaurierte Kirchen und Paläste, hochpreisige Boutiquen und plötzlich Massen von Tou­ris­t:in­nen mit Rollkoffern. Es ist wie eine andere Stadt. Auch hier regiert an jeder Ecke der SSC, Banner im neapolitanischen Dialekt hängen über den Straßen: „Du bist mein Leben“.

Selbst vor dem Fenster eines veganen Ladens steht eine Pappstatue von Trainer Luciano Spalletti. Tou­ris­t:in­nen laufen in aufblasbaren Napoli-Kronen herum, die sie in Rosarios Viertel womöglich ein wenig lächerlich fänden, ein Mann führt ein possierliches Hündchen im Trikot aus. An der Piazza del Plebiscito stehen vier Teenagerinnen, alle in Trikots. Neapolitanerinnen sind sie und aus dem Viertel Vomero, Cousinen.

„Früher haben wir uns nicht für Fußball interessiert, aber seit dieser Saison sind wir Fans“, erzählt die Älteste. Wie das kam? „Es ist einfach eine schöne Geschichte.“ Mit dem ewigen Maradona haben die Mädchen nicht viel am Hut. Ihre Helden: „Osimhen“, antworten drei fast gleichzeitig. „Kwarazchelia“, hält die vierte dagegen. Die neue Geschichte machte sie zu Fans.

Was bedeutet der Titel für sie?

Victor Osimhen und Chwitscha Kwarazchelia sind die beiden No-Names, die hier zu Superstars wurden. Liga-Toptorschütze Osimhen darf sogar mit Maradona auf Plakate, die größte vorstellbare Ehre. Je weiter es gen Altstadt geht, desto größer die Plakatdichte. Die pittoresken Gassen und Treppen im Zentrum sind ein einziger SSC-Tempel in diesen Tagen, voll mit Wandgemälden und Bannern, Fanartikelständen und Maradona-Schreinen.

Eine alte Frau in blauer Perücke und Trikot tanzt selbstvergessen mit Trillerpfeife zu Musik. Was der Titel für sie bedeutet? Sie lacht: „Ich bin Verkäuferin.“ Sie weist auf ihren Alkoholstand. Zwei Studententypen kaufen ihr Schnaps ab und wollen ein Selfie, ein anderer Tourist fordert sie auf, vor seiner Kamera zu tanzen. „Forza Napoli!“

Echte Liebe und gestellte Bilder für die Kundschaft gehen hier eine bizarre Union ein. Maradona-Schreine und SSC-Hype als Marketingstrategie. Sie sei aber, versichert die Dame glaubhaft, riesengroßer Fan. Kollege Alberto, Stadiongänger seit den Achtzigern und natürlich Maradona-Verehrer, erzählt von der mythischen Bedeutungsebene, auf die sich alle einigen kö­nnen: zwei Titel mit Diego, der dritte kurz nach Heilands Tod. „Die Hand Gottes hat uns den dritten Titel geschenkt“, ist Alberto überzeugt.

Neapel ist gereift. Eine Stadt, die für einen historischen Moment die richtige Mischung aufweist: pittoresk und voller Lebenslust, aber noch nicht kaputtgentrifiziert, noch mit düsteren Ecken und echten Gefühlen. Edgy nennt man das im Marketingsprech. Die diesen Verein wirklich abgöttisch liebt; die eine Geschichte erzählt, die zugleich stimmt.

Jetzt ist Fußball nur noch Sport für die mit Geld

Eugenio sitzt auf der Vortreppe seines Ladens in der Altstadt, schlägt sich durch: Er verkauft frischen Kaffee, Fanartikel. Lange Jahre war ihm der SSC alles. Mit 16 kam er zu den Ultras, 9 Jahre lang blieb er. „Wir haben unsere Stadt verteidigt, wir haben Napoli getragen.“ Heute geht er nicht mehr ins Stadion. Warum? Er verweist hinter sich auf seine kleine Tochter, die Familie. Und auf die Preise: „Früher war Fußball ein Sport für alle, jetzt ist es ein Sport nur für die mit Geld. Tickets für Napoli kosten 40 oder 45 Euro, das kann ich mir nicht leisten.“

Eugenio ist einer der Zurückgelassenen des neuen Napoli. Aber weit geht die Entfremdung nicht. „Beim letzten Titel war ich 7 Jahre“, erzählt er. „Jetzt bin ich 40. Und schau dir meine Gänsehaut an.“ Wer will sich dem Märchen entziehen? Und was ist Fußball, wenn nicht eine gute Geschichte?

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