Schwerstkranke Kinder in der Pandemie: Kurz vor der Vollkatastrophe
Schwerstkranke Kinder, die zuhause gepflegt werden, sind vom Coronavirus besonders bedroht. Hilfsangebote für sie und ihre Eltern fallen weg.
„Zu Beginn der Coronakrise hatte ich das Gefühl, wir sitzen auf unserer Insel im tobenden Atlantik und niemand kommt zu uns“, sagt Christine Wolfram. Ihr Sohn Arne, 12, ist seit der Geburt schwerstbehindert. Cerebralparese lautet die Diagnose. Arne kann sich nicht bewegen, ist blind, hat eine ausgekugelte Hüfte und chronische Schmerzen. Hinzu kommt eine nicht einstellbare Epilepsie, Arne krampft mehrmals am Tag.
„Wir waren vorher schon sozial isoliert“, sagt seine Mutter, die ihren Beruf als Finanzfachwirtin seit der Geburt ihres ältesten Sohnes nicht mehr ausüben kann, nun sei auch noch fast das gesamte Pflege- und Betreuungsnetzwerk zusammengebrochen. Die Hausbesuche des Kinderhospizdienstes sind weggefallen. Die Inklusionshelferin, die Arne sonst in die Schule begleitet, dürfte zwar theoretisch in die Familie kommen. Doch sie wohnt in Frankreich, im Grenz- und Risikogebiet Grand Est. Ein Besuch – ausgeschlossen.
Nur eine Pflegerin des gemeinnützigen Vereins Nestwärme unterstützt die Familie noch für drei Stunden am Tag. Doch das reicht nicht. „Wir brauchen dringend Pflegeentlastung“, sagt Christine Wolfram.
In Deutschland leben rund 50.000 Kinder und Jugendliche mit einer lebensbedrohlichen oder lebensverkürzenden Krankheit. Und sie alle gehören jetzt zur Hochrisikogruppe. Als wäre das Wissen nicht schon belastend genug, fallen nun auch noch reihenweise Hilfen weg, auf die Kinder und Eltern dringend angewiesen sind. Und der Druck auf die Familien wächst täglich. „Die Eltern müssen jetzt gestärkt werden, sonst kollabiert ein ganzes System“, sagt Petra Moske, die den Verein Nestwärme vor über zwanzig Jahren mit gegründet hat.
„Jetzt sind die Familien doppelt isoliert“
Die 110 Mitarbeiter und rund 1.500 Ehrenamtlichen des Vereins unterstützen Familien von schwerst- und lebensverkürzt erkrankten Kinder, die zu Hause gepflegt werden. „Für viele Familien ist schon seit der Geburt ihres Kindes Coronazeit“, sagt Petra Moske, „aber es hat Entlastungsmöglichkeiten gegeben.“ Einige Kinder konnten in Schulen oder Kindergärten gehen, wurden außerhalb des Hauses betreut. „Jetzt sind die Familien doppelt isoliert, haben niemanden mehr, der ihnen helfen kann.“
Hinzu komme eine verringerte Mobilität von Familien, die kein Auto besitzen. „Sie können nicht mal mehr Bus oder Bahn fahren, weil das Infektionsrisiko zu hoch ist.“ Kurzzeitpflegeangebote fallen weg, ebenso das soziale Hilfsnetzwerk aus Großeltern, Nachbarn oder ehrenamtlichen Helfern. Und auch die professionelle Hilfe musste eingeschränkt werden. „Schwestern, die Anzeichen einer Corona-Erkrankung haben und in der Testung sind, können wir vorübergehend nicht einsetzen“, sagt Petra Moske. Momentan seien das von den über fünfzig Mitarbeiterinnen im Durchschnitt etwa zwanzig. Bislang seien aber alle Tests negativ gewesen.
Neben dem ambulanten Kinderintensivpflegedienst hat der Verein auch einen Kinderhospizdienst aufgebaut. Und er unterhält eine inklusive Kinderkrippe, in der 56 Kinder mit und ohne Pflegebedarf betreut werden. Doch ein Großteil der Angebote musste eingestellt werden. Eine Zwangspause, die alle belastet. Mitarbeiter und Ehrenamtliche bleiben telefonisch oder über digitale Medien in Kontakt mit den Familien. Der Verein stellt Praxisübungen zu Resilienz online, organisiert virtuelles Charity-Live-Kochen und bietet digitale Sprechstunden an.
„Wir versuchen per Videochat ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es den Familien wirklich geht“, sagt Petra Moske, „wenn wir spüren, dass Familien in einen kritischen Zustand kommen, dann werden wir mit entsprechenden Schutzmaßnahmen persönliche Hilfe vor Ort gewährleisten.“ Doch schon tut sich das nächste Problem auf: Schutzausrüstung ist Mangelware. „Die Beschaffungsorganisation ist eine große Herausforderung.“ Die Nestwärme braucht FFP 2-Masken und Schutzkleidung. Dringend.
Ständige Gefahr – auch vor Corona
Denn eine Infektion mit dem Coronavirus ist das Schreckensszenario für alle pflegenden Eltern. Auch weil eine Quarantänesituation die häusliche Pflege unmöglich machen würde. Und dann müssten die Eltern die intensivmedizinische Versorgung ihrer Kinder allein stemmen.
„Das wäre eine Vollkatastrophe“, sagt Anke Diederich, die ebenfalls vom Verein Nestwärme unterstützt wird. „Wir haben fünf Nächte in der Woche eine Nachtschwester bei uns zu Hause, die uns entlastet.“ Ihre Tochter Fine ist drei Jahre alt und kam mit einer schweren Hirnschädigung zur Welt. Seit sie mit eineinhalb Jahren eine zweite Hirnschädigung erlitt, ist Fine ein Palliativkind. Sie entwickelt sich nur minimal, hat wenig Muskeltonus, kann den Kopf nicht halten und ist kognitiv stark eingeschränkt.
„Es gab schon ein paar Situationen, wo der Palliativarzt gesagt hat: Rufen Sie ihren Mann an, die Fine schafft den Tag nicht, aber sie hat ihn geschafft.“ Seit Juni letzten Jahres ging Fine sogar in die Kita, dreimal drei Stunden in der Woche. „Wir mussten uns überwinden, sie in die Kita zu geben“, erinnert sich Anke Diederich, „auch ein Grippevirus könnte sie das Leben kosten. Aber wir haben uns entschieden, dass sie leben darf. Wenn das Leben dann kürzer ist, hat sie jedenfalls gelebt.“
Corona macht der Familie nicht mehr Angst als andere Infekte und Viren, „aber die Angst ist präsenter.“ Und die Nachrichten aus Italien verstärken sie. „Wenn es hart auf hart käme und Alte und Kranke nicht mehr behandelt werden, würde Fine dazugehören.“
Es fehlt an Schutzausrüstung – wie überall
Tod, Krankheit, Pflege – das alles sind Themen, mit denen sich Familien mit unheilbar kranken Kindern tagtäglich beschäftigen müssen. Jetzt nehmen sie noch mal an Brisanz zu. „Die Kinder haben häufig geschwächte Immunsysteme“, sagt Martin Gierse, Geschäftsführer des Deutschen Kinderhospizvereins, „und einen sehr fragilen Gesundheitszustand.“ Besuche durch Ehrenamtliche sind daher auch beim Deutschen Kinderhospizverein nicht mehr erlaubt. Und es ist nicht absehbar, wann sich das wieder ändert. Zudem fehle es an Schutzausrüstung: Masken, Kittel, Einmalhandschuhe, Desinfektionsmittel.
Trotzdem seien die rund 1.000 Ehrenamtlichen, die die Familien vorher im Schnitt ein- bis zweimal die Woche zu Hause unterstützt haben, in Kontakt mit den Familien. „Jetzt ist es an uns, zu zeigen: Ihr seid nicht allein, wir sind an eurer Seite, auch wenn wir nicht kommen können.“ So gebe es Ehrenamtliche, die vor dem Haus der Familien Gitarre spielen. Andere schreiben Postkarten, machen Videokonferenzen, erledigen Einkäufe oder Botengänge.
Auch Notrufe hätte es schon gegeben. „Wir brauchen euch, hätten Eltern gesagt, persönlich.“ Doch dem Deutschen Kinderhospizverein sind die Hände gebunden. Ein Besuch sei nicht zu verantworten und auch nicht erlaubt, sagt Martin Gierse.
Doch es gibt Notfälle, Ausnahmen von der Regel. Der Geschäftsführer erzählt von dem Hilferuf einer Klinik, in der ein kleines Mädchen liegt, das lebensverkürzt erkrankt ist. Ihre Eltern hatten es allein gelassen, wollten es nicht haben. Der Verein sprang spontan ein. „Wir haben mit der Klinik detailliert besprochen, welche Sicherheits- und Hygienemaßnahmen eingeleitet werden müssen, damit wir kommen können.“ Die Klinik stellte Schutzanzüge bereit und ermöglichte den Einsatz eines Ehrenamtlers, der nun täglich an der Seite des Kindes ist.
Bisher keine Hilfe vom Staat
Und neben all den Herausforderungen könnte die Coronakrise für den Verein auch finanziell zur Katastrophe werden. „Unser Angebot ist kostenlos. Wir sind zu zwei Dritteln auf Spenden angewiesen“, sagt Martin Gierse, „wir haben keine Rücklagen, leben von der Hand in den Mund.“ Der Geschäftsführer befürchtet, dass der Verein in Existenznot geraten könnte. „Wir brauchen rund 6 Millionen Euro freie Mittel.“
Finanzielle Soforthilfen vom Staat gebe es nicht. Der staatliche Schutzschirm für Träger der freien Wohlfahrt lässt die kleinen zivilgesellschaftlichen Akteure leer ausgehen. „Mir wird ganz flau im Magen, wenn ich daran denke“, sagt Petra Moske vom Nestwärme-Verein, „auch bei uns machen sich Existenzängste breit.“ Es drohe der „SuperGAU“.
Für viele Familien mit schwer erkrankten Kindern ist der längst eingetroffen. Schon vor der Krise sei die Situation auf Dauer unerträglich gewesen, sagt Christine Wolfram, die Mutter von Arne, „Corona toppt das jetzt noch.“ Erst vor zwei Jahren sei sie krank geworden. „Ich bin zusammengebrochen und im Krankenhaus gelandet.“ Wie lange sie die erneute Dauerbelastung durchhält, sei ungewiss. „Uns fällt jetzt wieder ein, wie komplett überfordert wir waren, als Arne noch nicht zur Schule ging. Und da möchten wir nie wieder hin zurück.“
Die Politik ignoriere pflegende Angehörige und ihre Bedürfnisse, sagt die Mutter. „Wir wollen ja gar nicht, dass uns jemand die Pflege rund um die Uhr abnimmt, dann könnten wir die Kinder auch ins Heim geben.“ Sie möchten aber auch nicht alles allein finanzieren. Und die Familie braucht Unterstützung in der häuslichen Pflege – sofort. Denn eine Änderung der Gefahrenlage ist für Familien mit unheilbar kranken Kindern nicht in Sicht.
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