Schulreform (I): Wo ein Wille, da ein Weg
Migranten fordern, über Primarschule mit abstimmen zu dürfen. Erziehungswissenschaftler werben für Reform.
"Meldet euch doch mal bitte, wie viele wählen am 18. Juli?" Es ist Sonntag Nachmittag, und Bedo, ansonsten Moderator der "Oriental Night" auf Hamburg 1, steht auf einer Bühne im Altonaer August Lüttgens Park. Nur wenige Finger gehen hoch. "Cool, drei Leute", scherzt Bedo.
Nein, ein paar mehr sind es schon. Und viele würden per Brief abstimmen, sagt ein Sprecher der Türkischen Gemeinde. Aber 206.000 Hamburger ohne deutschen Pass dürfen nicht mitmachen - das trifft etwa ein Viertel der Eltern, die heute ein Kind im Vorschulalter haben. Und so waren es migrantische Organisationen, die zu dem Fest "Ja zur Schulreform" in den Park luden.
Tags zuvor bereits hatte die Interkulturelle Elterninitiative auf dem Rathausmarkt eine "symbolische Abstimmung" abgehalten, deren Ergebnis erst am heutigen Montag bekannt gegeben wird. "Wir wollen an Abstimmungen beteiligt werden, von denen wir betroffen sind", sagte da Mülayim Hüseyin, Vater eines zwei- und eines fünfjährigen Kindes. "Ansonsten haben wir hier eine Apartheidssituation." Von Migranten werde gefordert, dass sie Deutsch lernen, dies sei die Schulsprache, erzählte er, "aber von wem sollen unsere Kinder besser Deutsch lernen, wenn sie von den besser Deutsch sprechenden Kindern so früh getrennt werden?" An Sonderschulen wiederum hätten sieben von zehn Kindern Migrationshintergrund. "Die sind nicht körperlich oder geistig behindert", so Hüsyin, "die haben einzig Defizite in der deutschen Sprache".
Die Elterninitiative hat den Parteien geschrieben, dass sie hier eines Gesetzesänderung will und mit SPD, Grünen und der Linken Gespräche geführt. Die Europäische Union verlangt, dass Migranten bei kommunalen Abstimmungen beteiligt werden. Dies, fordert die Initiative, müsse auf Landesebene ausgeweitet werden. Hüseyin: "Wenn es einen politischen Willen gibt, kann es einen Weg dafür geben."
Ein "großes Problem" hat auch der Altonaer CDU-Bundestagsabgeordnete Marcus Weinberg damit, "dass so viele Eltern, deren Kinder in Hamburg zur Schule gehen, über diese Reform nicht mit abstimmen dürfen". Kurzfristig sei das aber nicht zu ändern. Umso mehr müssten sich diejenigen, die Kreuzchen machen dürfen, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein.
Unterstützung erhielt das längere gemeinsame Lernen am Sonntag durch zehn Professoren der Hamburger Bundeswehr-Universität. Sie erklärten, frühe Selektion wirke sich "für viele Kinder zum Nachteil aus". Zudem warben 40 Erziehungsberater und Kindertherapeuten für die Reform. Die frühe Entscheidung über den Bildungsweg überfordere Eltern und Kinder und führe zu seelischen Belastungen, heißt es in dem Text, den auch Jan-Uwe Rogge, Autor des Klassikers "Kinder brauchen Grenzen", unterzeichnete. "Je länger Kinder gemeinsam lernen, desto besser ist es", sagt Rogge. Er könne die Aufgeregtheit um die Primarschule "nur begrenzt verstehen".
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