Schule für trans Kinder in Chile: Lernen ohne Stigma
Mit freiwilligen Lehrer*innen versucht eine Schule für trans Schüler*innen in Chile eine auseinanderdriftende Gesellschaft zusammenzubringen.
„Genau wie ich!“, antwortet ihr ein Mädchen. Jorquera lacht: „Damals habe ich mir auch die Highheels meiner Mutter angezogen“, erzählt sie weiter. „Hast du das heimlich gemacht?“, fragt ein anderes Mädchen. „Jeden Tag habe ich das gemacht! Aber heimlich, sonst hätte meine Mutter mich geschimpft.“ „Meine Mama lässt mich!“, gibt eine weitere an. Die Nebengespräche laufen eine Zeit weiter. Profe Ramírez schreitet ein: „Wer von euch weiß denn, was eine Miss ist?“
Die Schule wurde vor einem Jahr von Ximena Maturana und einer weiteren Mutter eines trans Mädchens gegründet. Benannt wurde sie nach der mexikanischen trans Aktivistin und Sozialanthropologin Amaranta Gómez. „Wir haben ungefähr 50 Familien, mit denen wir aktiv zusammenarbeiten“, erzählt Maturana. „Das hier ist eine gemeinschaftliche Arbeit: Kind, Familie und Schule. Unsere Stiftung arbeitet eng mit allen Schulen, auf die unsere Kinder gehen, zusammen.“
Gewalt in den Schulen könne viele Formen annehmen, berichtet Maturana, aber oft komme sie in Gestalt von kleinen Stichen. Wenn sie ihre Tochter abhole und die Blicke aller Eltern auf sich spüre: „Ich habe kein Problem mit dir, aber komme meinem Kind nicht zu nahe“, spreche es aus den Augen der Eltern. „Man merkt es kaum, und schon ist dein Kind das einzige, das nicht zu den Geburtstagsfeiern eingeladen wird. Es ist traurig, wenn alle Kinder auf den Geburtstagsfotos sind außer deines.“
Der Besuch der Miss wird sowohl für sie selbst als auch für die Kinder zur Möglichkeit, Frust über ihre Erfahrungen im traditionellen Schulsystem abzulassen. Ein ungefähr zehnjähriges trans Mädchen erzählt, wie ein Lehrer ihr einmal ein Bein stellte und sie zu Boden fallen ließ. Eine andere Schülerin erinnert sich an Mobbingsituationen. Ein schwuler Freund sei so oft verprügelt und gemobbt worden, dass er sich auf der Schultoilette versteckt und sich den Finger gebrochen habe, als er voll Wut gegen die Wand schlug. Dann erzählt sie von einer Situation, in der sie nach konstantem Mobbing so sauer wurde, dass sie ein anderes Mädchen verprügelte.
Schnell schreitet Ramírez ein, um die Kinder daran zu erinnern, dass Gewalt nicht die Lösung dieser Probleme ist. Eine Schülerin widerspricht ihr – es sei nur normal auszurasten, wenn man so viel Wut in sich sammle. Profe Ramírez kennt sich aus mit angestauter Wut. Sie ist Geschichtslehrerin und Aktivistin für Transrechte, musste jedoch ihr Pädagogikstudium zehn Jahre lang für ihre Transition unterbrechen. Vor zwei Jahren, kurz nach ihrer Namensänderung, hat sie den Abschluss gemacht. Zur Zeit unseres Gesprächs hat sie endlich ihr Zeugnis mit ihrem neuen Namen abholen können.
Keine Anerkennung des Ministeriums
Oft merken Eltern, dass ihr Kind es nicht aushält, weiterhin auf die gleiche Schule zu gehen, während das Kind in der Transitionsphase ist. Dann nehmen sie ihre Kinder von der Schule und lassen sie vorerst zu Hause bleiben. Die Amaranta-Gomez-Schule hat es sich zum Ziel gemacht, dieses Stigma sowie die damit einhergehende Unterbrechung der Schulbildung zu beenden. Der Unterricht beginnt um 9 Uhr morgens, Maturana kommt jedoch schon um 7.15 Uhr an, um eines der Mädchen zu betreuen – dessen Eltern können sie nur um diese Uhrzeit an der Schule absetzen. „Wir versuchen, so unkompliziert wie möglich zu sein, damit die Eltern ihre Kinder zu uns bringen können. Es soll keine Ausreden dafür geben, dass die Kinder nicht kommen.“
Die Amaranta-Gomez-Schule heißt Escuela auf Spanisch, und nicht Colegio. Zwei Wörter, die im Spanischen oft als Synonyme behandelt werden – es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied. Hieße sie Colegio, wäre sie offiziell vom Bildungsministerium anerkannt. Hierfür müsste die Schule verschiedene Voraussetzungen erfüllen. Silva und Maturana sind sich nicht sicher, ob sie diese erfüllen wollen.
Dennoch war Marcela Cubillos, die Bildungsministerin, einmal zu Besuch und hat einen Preis überreicht. „Den Namen des Preises habe ich vergessen“, sagt Maturana. „Irgend sowas wie bestes Verhältnis unter den Schülern.“ Sie scheint noch immer etwas verblüfft zu sein von dem Besuch, schließlich ist Ministerin Cubillos so konservativ, dass sie als Abgeordnete 2004 gegen die Legalisierung der Scheidung stimmte.
Das Wichtigste an der Anerkennung, ist, dass Schulen dann vom Staat finanziert werden. In der Amaranta-Gomez-Schule sind derzeit alle Lehrenden ehrenamtlich tätig, der Schulbesuch ist gratis. Die Schule finanziert sich über Unterstützung der chilenischen NGO Alquimia und will sich auch auf den International Trans Fund bewerben.
Konservative und Rechte
Wie viele andere Orte dieser Welt befindet sich Chile derzeit zwischen zwei gegensätzlichen Kräften. Einerseits hat die chilenische Schauspielerin Daniela Vega als erste trans Person einen Oscar gewonnen – für den Film „Eine fantastische Frau“, in dem sie die Hauptrolle spielt, in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“. Auch die Rechtslage in Chile zur Geschlechtsidentität wurde reformiert, sodass die offizielle Anerkennung von Transidentitäten nicht mehr wie zuvor Jahre dauert.
Andererseits sind auch faschistische Kräfte weit verbreitet in Chile. Pinochet-Verehrer José Antonio Kast erreichte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 sieben Prozent der Stimmen. Er repräsentiert die extreme Rechte, unter ihnen Neonazis und Evangelikale. Vor wenigen Monaten protestierten Konservative gegen „Genderideologien“. Tausende nahmen teil, darunter Neonazi-Splittergruppen, die K-Pop tanzende Kinder verprügelten. Die Polizei – normalerweise bekannt für den erbarmungslosen Einsatz von Tränengas bei jeglichem Protest – lief knüppelschwingend ganz vorne mit, um die Demonstrierenden abzuschirmen. Unterstützt von der Regierungshaltung, dass die Redefreiheit der Konservativen zu schützen sei.
Noch hat es keine physischen Attacken gegen die Amaranta-Gomez-Schule gegeben. Maturana glaubt, dass das mit der Nachbarschaft zu tun hat. Im Unterschied zu anderen Vierteln in Santiago ist Villa Olímpica eines mit Geschichte. Als letzte Bastion des Sozialwohnungswesens in Chile liegt es ganz in der Nähe des Nationalstadions, welches als Folter- und Vernichtungslager in der Zeit des Pinochet-Regimes diente. In gleichen Viertel wurden, Jahre später, Freiheitskämpfer, die sich in der Gegend versteckt hielten, von den Soldaten des Diktators ermordet. Nach der Verwüstung durch das Erdbeben 2010 organisierten sich die Nachbarn in einer bis heute bestehenden Initiative, die Dienstleister wie Putztruppen, Newsletter, Freizeitaktivitäten und eine mobile Bücherei anbietet.
Sie fühlen sich sicher hier. Dennoch gibt die Schule ihre genaue Adresse lieber nicht öffentlich bekannt.
Anliegen sichtbar machen
Noch ist ungewiss, wie lange die aktuelle Hasswelle gegen trans Menschen andauern wird. Profe Ramírez ist ehrlich. Ihr Rat ist wichtig für die Kinder, besonders für die Älteren, die sich in naher Zukunft an Universitäten und Arbeitsplätzen bewerben werden: „Die Kinder müssen lernen, sich selbst zu verteidigen. Nicht damit sie randalieren, aber damit sie wissen, dass es da draußen Gewalt gegen sie gibt – ihnen das nicht beizubringen wäre unverantwortlich.“
Gegenüber den kleineren Kindern verfolgt Ramírez eine andere Strategie: „Ich persönlich versuche ihnen einfach zu ermöglichen, ihre Kindheit auszuleben. Ich spreche nicht über Politik, Gender und ähnliche Themen mit ihnen. Das sind Kinder, die denken über Disneyfilme und Weihnachten nach. Sie wollen schreien und spielen und springen.“
Als Profe Ramírez die Kinder fragt, was eine Miss ist, antwortet ein Mädchen: „Eine schöne Frau, eine Diva!“ Ein Junge witzelt: „Das erscheint in meinen Computerspielen, wenn ich danebenschieße: ‚Miss!‘“ „Was ist für dich eine Miss, Antonia?“, wollen die Kinder von ihrer Besucherin wissen.
„Eine Miss zu sein bedeutet viele Dinge.“ Miss Chile Trans lächelt, mit sanften Gesten, während sie spricht: „Es geht dabei nicht um Schönheitsstandards. Es geht darum, Anliegen sichtbar zu machen, die normalerweise nicht gezeigt werden. Menschen zu repräsentieren, die versteckt leben.“
Übersetzung: Lea Bresselau von Bressensdorf
Dieser Text erschien zuerst auf dem englischsprachigen Blog theestablishment.co
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