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Schule der GefühleVom Zorn im Straßenverkehr

Was wäre ergiebiger für Studien zum Emotionshaushalt als eine abgedrängte Radfahrerin? Das weiß auch der Ethikrat, der sich für nichts zu schade ist.

Von wegen Idylle: Tatsächlich ist der Radweg Heimat zahlreicher Wutbürgerinnen und Wutbürger Foto: Christoph Soeder/dpa

K ürzlich radelte ich nach Hause, als mich von hinten ein Lastenrad abdrängte. „Geht’s noch“, schrie ich, wandte mich um und erkannte den Vorsitzenden des Ethikrats, der einen goldenen Fahrradhelm trug. Die beiden anderen Mitglieder saßen in der Transportbox. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Eines der Mitglieder fotografierte mich mit einer Sofortbildkamera, das andere kramte einen Notizblock hervor. „Ach, Sie sind es Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende heiter. „Ja, ich bin es“, sagte ich unfroh. „Hat es einen tieferen Sinn, dass Sie mich abdrängen?“

„Natürlich“, sagte der Ratsvorsitzende. „Wir beschäftigen uns in einer Feldforschungsreihe mit dem Thema Zorn. Sicher sind Ihnen die Ideen Aristoteles’ und Senecas dazu bekannt. Und nun richten wir unsere bescheidenen Kräfte“ – er wies wohlwollend auf die beiden anderen Ratsmitglieder – „darauf, ihre Thesen im Kontext zeitgenössischen Straßenverkehrs zu prüfen.“

„In der Theorie heißt es ja heutzutage, der Zorn sei eine produktive Kraft“, sagte ich. „Aber was man so trifft, ist eher Gepöbel am Wegrand. Ein Wutbürgertum für alle Schichten, bei dem es unmöglich ist, vom Anlass zur eigentlichen Wurzel zu kommen.“ – „Tatsächlich“, murmelte der Ratsvorsitzende desinteressiert und betrachte das Polaroidfoto, das eines der Ratsmitglieder ihm reichte. Ich versuchte nicht hinzuschauen. Das andere Ratsmitglied klebte gelbe Zettel an die umstehenden Laternen.

„Welche Erkenntnisse ziehen Sie aus dem Verkehr?“, fragte ich, während ich daran dachte, wie ich kürzlich einem sehr dicken Auto Bitteres hinterhergeschrien hatte, woraufhin das Auto hielt und ich mich fragte, ob ältere schreiende Frauen auf offener Straße niedergeschlagen werden oder ob es da so etwas wie Welpenschutz gibt, eben nur für sehr alte Hunde. Der Mann am Steuer kurbelte das Fenster herunter. „Sie sind viel zu nah an mir vorbeigefahren“, sagte ich. „Ich bin auf dem Weg in den Kreissaal zu meiner Frau“, sagte er. Ich wünschte ihm betreten alles Gute und erst sehr viel später fiel mir auf, dass die Straße schlecht gewählt war, um zu irgendeinem Kreissaal dieser Stadt zu gelangen.

Philosophische Selbstschulung

„Wir finden wenig Bereitschaft, die Ratio über den Affekt zu stellen“, sagte der Ratsvorsitzende und streute eine Handvoll Reißzwecken auf den Weg, die er mit Sand bedeckte, den ihm die Ratsmitglieder aus der Transportbox anreichten. „Dabei bietet sich gerade hier ein sehr produktiver Ausgangspunkt für eine philosophische Selbstschulung.“ Er hielt einen Zettel in die Höhe, mit einem Foto, auf dem der Rat freundlich in die Kamera winkte, darunter stand: „Dein Zorn über schlechte Handlungen anderer schadet dir selbst ungleich mehr als die Handlungen selbst“ (Marc Aurel) – nutzen Sie die Expertise erfahrener Philosophen, um Ihre Affekte zu zügeln.“ Und darunter: Drei Sitzungen für 500 Euro.

Der Ethikrat war schamlos, aber das war selbst für seine Verhältnisse bodenlos. „Sie verbinden Forschung und finanzielle Interessen“, sagte ich, „ist das wissenschaftlich nicht indiskutabel?“– „Natürlich nicht“, sagte der Ratsvorsitzende. „Wir verfolgen beides strikt getrennt.“

Da näherte sich einer dieser schnittigen Jungväter, die sehr unangenehm werden können, neben sich schob er ein Lastenrad der höheren Preisklasse. „Leider müssen wir aufbrechen“, sagte der Ratsvorsitzende, die beiden anderen Mitglieder waren bereits angeschnallt. „Das größte Gegenmittel gegen den Zorn ist der Aufschub“, rief er in Richtung Jungvater, aber dann sparte er seine Luft, um sehr rasch davonzufahren.

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Friederike Gräff
Redakteurin taz nord
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2 Kommentare

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  • Erstmal: Im 24-köpfigen Ethikrat sitzen immerhin 11 Frauen. Kein übler Schnitt.

    Ich bin Fan von Alena Buyx, seit ich sie bei Anne Will gesehen habe.

    Will frage sie wie viele Tage oder Wochen der Rat brauchen würde, für keine Ahnung mehr welche Entscheidung.

    Darauf brach Frau Buyx in ein nicht unsympathisches, aber überkandideltes Lachen aus und meinte, normalerweise bräuchten sie für alles mindestens ein Jahr.

  • Viele Zeitgenossen denken, sie hätten ein Recht, sich im Straßenverkehr ignorant, rücksichtslos und missachtend aufführen zu dürfen und wundern sich darüber, dass dieses Verhalten ihnen immer wieder begegnet.