piwik no script img

Schicht im Schacht: Erster Schultag in der U-Bahnstation Universitet in Charkiw, 01.09.2023 Foto: Mstyslav Chernov/dpa

Schulanfang in der UkraineNächster Halt: ABC

Endlich wieder Präsenzunterricht: In Charkiw, nur 40 Raketensekunden von der Front entfernt, lernen Schüler in diesem Jahr in der U-Bahn. Ein Besuch.

Von Juri Larin aus Charkiw

I n einem fensterlosen Raum, die Wände mühevoll mit Luftballons und Aufklebern geschmückt, sitzen lärmende Erst­kläss­le­r*in­nen an Tischen. Sie sind festlich angezogen, die Mädchen haben Bänder im Haar, ein Junge trägt ein Seidentüchlein im weißen Sakko. Alle lächeln und blicken erwartungsvoll in Richtung Lehrerin. Nach den langen Ferien hat die Schule wieder angefangen. Aber die ABC-Schützen lernen nicht in gewöhnlichen Klassenzimmern, sondern in mehr als 20 Metern Tiefe, in der U-Bahn-Station „Universitet“ im Zentrum der ostukrainischen Stadt Charkiw.

Charkiw, die zweitgrößte Stadt in der Ukraine, liegt etwa 40 Kilometer von der Staatsgrenze zu Russland entfernt. Vor der russischen Invasion lebten hier mehr als 1,5 Millionen Menschen. Mittlerweile ist die Bevölkerungszahl zurückgegangen, auch die Sozialstruktur hat sich verändert. Den Platz von Bewohner*innen, die ihre Häuser verlassen mussten, haben Migranten aus den Frontgebieten der Region Charkiw sowie aus den teilweise besetzten Gebieten Donezk und Luhansk eingenommen.

Im Sommer begannen lebhafte Diskussionen darüber, wie die Kinder ab dem Herbst beschult werden sollen. Denn kurz zuvor hatte der Verteidigungsrat der Region Charkiw beschlossen, unter bestimmten Bedingungen wieder Präsenzunterricht zuzulassen: Dafür muss ein Bunker oder ein Luftschutzbunker vorhanden sein, der den baulichen Anforderungen entspricht und vor Raketen schützt.

Doch russische S-300-Raketen können die Stadt in etwa 40 Sekunden bis einer Minute erreichen. Selbst mit einem Luftschutzbunker ist diese Zeitspanne zu kurz, um die Kinder zu schützen. Darüber hinaus stellte sich heraus, dass Schulen, die noch zu Sowjetzeiten gebaut worden waren, überhaupt keine Schutzräume hatten, um rein theoretisch vor einem direkten Raketenangriff Schutz bieten zu können.

Schulen werden häufig angegriffen

Gerade auch Schulen waren und sind jedoch ein bevorzugtes Angriffsziel der Russen. Nach Angaben des Abteilungsleiters für Öffentlichkeitsarbeit und Medien des Stadtrats von Charkiw, Jurij Sidorenko, wurden bislang 124 Schulen, mehr als die Hälfte aller weiterführenden Bildungseinrichtungen der Stadt, 108 Kindergärten und 107 Hochschuleinrichtungen zerstört oder beschädigt.

Aus dieser Situation gab es einen Ausweg: den Eltern in Charkiw anzubieten, ihre Kinder in die sogenannte U-Bahn-Schule zu schicken. Dabei handelt es sich um speziell ausgestattete Klassenzimmer in fünf Stationen der Charkiwer U-Bahn: „Universität“, „Sieg“, „Erbauer der Metro“, „Traktoren­fa­brik“ sowie „Akademikerin Pawlowa“. Bis zum 1. September hatten sich 60 Klassen bereit erklärt, den Unterricht in die U-Bahn zu verlegen.

An diesem Tag bekommen die Schü­le­r*in­nen ungewöhnlichen Besuch. Der Bürgermeister von Charkiw, Igor Terekhov, und Innenminister Igor Klimenko sind zum Fototermin in sieben Klassenzimmer der U-Bahn-Station Universitet gekommen, die Lehrkräfte hören gar nicht auf, sich bei ihnen zu bedanken. Denn zum ersten Mal seit anderthalb Jahren sitzen überhaupt wieder Schü­le­r*in­nen in einem Klassenzimmer.

Nach Angaben des Bürgermeisters sei die Zahl der Klassen, die in der Metro-Schule lernen werden, auf 61 gestiegen, darunter 23 Grundschulklassen sowie 38 Klassen der Oberstufe. Es sei noch ein weiterer Jahrgang mit Absolventen einer Abschlussklasse hinzugekommen. Insgesamt ist in den U-Bahn-Stationen Platz für 68 Klassen.

Erst Corona, dann der Krieg

„Da könnten wir noch hinkommen. Die Nachfrage ist da – von den Schüler*innen, aber auch von den Eltern“, sagt Bürgermeister Terekhov. In der U-Bahn-Schule lernen damit mehr als 1.000 Schüler. Um die Kinder dorthin zu bringen, werden Schulbusse auf vorab vereinbarten 34 Strecken eingesetzt. Die Kinder treffen sich morgens in der Nähe ihrer eigentlichen Schulen. Von dort werden sie zu den U-Bahn-Stationen gebracht.

Doch von einem ganz normalen Schulalltag, wie zu Vorkriegszeiten, kann keine Rede sein. Nur zwei- bis dreimal pro Woche wird in der U-Bahn-Schule gelernt, an den restlichen Tagen gibt es Online-Unterricht. Zudem lernen die Kinder im Schichtsystem. Einige lernen von 9 bis 12 Uhr, die zweite Gruppe von 13 bis 16 Uhr – und zwar jeweils die Hauptfächer: Ukrainische Sprache und Literatur, Geschichte und Mathematik, Fächer, in denen auch Prüfungen abgelegt werden.

Für Erst­kläss­le­r*in­nen stehen vor allem Schreiben, Lesen und Zeichnen auf dem Programm. „Ich bin wirklich zufrieden, dass Kinder diese Möglichkeit haben. Und ich bin sehr froh, dass alle so gut gelaunt sind – die Eltern, die Kinder, aber auch unsere Lehrkräfte“, sagt Terekhov. Keine Selbstverständlichkeit in einer Stadt, die seit Monaten belagert und beschossen wird.

Fensterlos durch den Tag: Mühevoll geschmückte Wände im bunkergleichen Klassenraum Foto: Juri Larin

Trotzdem, ohne Kontakt zu Gleichaltrigen – damit leben Kinder in der Ukraine schon viel zu lange, nicht erst seit dem Beginn des Krieges. Denn dem Krieg voraus ging eine zweijährige Quarantäne infolge der Coronapandemie. Das beides zusammen sei der Grund für die Anpassungsschwierigkeiten junger Menschen, sagt Inna Chomitsch, Psychologin am städtischen Lyzeum Nr. 34 in Charkiw.

Da sie wegen des Krieges nicht in den Kindergarten gehen konnten, wissen viele nicht, wie es ist, in einer Gruppe zu lernen. Sie spüren einander nicht

Inna Chomitsch, Psychologin

Viele Kinder haben Angst

„Im Moment ist das für die Kinder alles wie ein Spiel. Sie verstehen noch nicht, was Lernen heißt. Da sie wegen des Krieges nicht in den Kindergarten gehen konnten, wissen sie nicht, wie es ist, in einer Gruppe zu lernen. Sie spüren einander nicht. Manche Kinder weinen, weil sie sich nicht von ihren Eltern lösen können. Sie haben Angst davor, in einen Bus zu steigen, denn der Alarm könnte losgehen. Sie erleben einen emotionalen Bruch mit ihren Eltern, das auszuhalten ist schwer“, sagt die Psychologin.

Sie bedauert auch, dass nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Charkiwer Kinder in die U-Bahn-Schule gehen könne. 50.000 Schulkinder gibt es hier insgesamt, das sind knapp halb so viele, wie vor dem Krieg. „Die anderen tun mir leid. Ich habe auch kleine Kinder. Es ist sehr traurig und schmerzhaft, dass sie ein solches Leben führen müssen“, sagt die Psychologin.

Elena Rudakowa hingegen, Lehrerin in den unteren Klassen am Charkiwer Lyzeum Nr. 56, strahlt über das ganze Gesicht. Heute am ersten Schultag ist sie sicher, dass sich der Unterricht an einer Metro-Schule nicht von einer regulären Schule unterscheidet: Es gebe die gleiche Ausstattung, das gleiche Essen und den gleichen Unterricht, nur sei alles viel sicherer.

Sie erzählt, was die Kinder heute in der ersten Lektion zum Thema „Ich erkunde die Welt“ gelernt hätten. „Zuerst ging es darum, wie man richtig am Schreibtisch sitzt, wie man sich begrüßt und respektvoll miteinander umgeht. Dann habe ich ihnen von unserer Ukraine erzählt, wie gut und schön es hier ist. Was für Flüsse und Meere wir haben. Dass wir Berge haben – die Karpaten, die Krimberge. Und dass die Krim die Ukraine ist.“

Der sicherste Ort der Stadt

Und weiter: „Wir haben uns mit geometrischen Formen beschäftigt: flach, dreidimensional. Wir haben Aufgaben gelöst und gelernt, aus Ziegeln einen Löwen und andere Gegenstände zu bauen. Ich habe den Eindruck, dass der Unterricht allen gefallen hat“, sagt Lehrerin Rudakowa. Sie ist überzeugt davon, dass die Präsenz im Klassenzimmer die Qualität des Lernens verbessern wird. Denn die Leh­re­r*in­nen könnten sehen, welche Kinder besondere Aufmerksamkeit und Hilfe benötigten. „Das ist nicht dasselbe, wie wenn man am Computer sitzt und die Kinder nur auf dem Bildschirm sieht“, sagt Rudakowa.

Daneben werden in Charkiw weitere Schulen gebaut, die die Sicherheitsanforderungen erfüllen. Schulen mit modernen Luftschutzbunkern, in denen die Schü­le­r*in­nen ebenfalls lernen können. Die erste soll nach Angaben des Bürgermeisters innerhalb von drei Monaten auf einem Schulgelände im Industriebezirk von Charkiw für rund 56 Millionen Hrywna – umgerechnet etwa 1,4 Millionen Euro – gebaut werden. 450 Schü­le­r*in­nen können dort unterrichtet werden. „Die Kinder wollen kommunizieren, das fehlt ihnen wirklich“, erklärt Terekhov.

Am Eingang der Schule stehen Polizisten und Schulangestellte. Außenstehende haben keinen Zutritt zu der U-Bahn-Schule. Die Räumlichkeiten verfügen über ein modernes Luftrückgewinnungssystem und eine auf Kinder abgestimmte Beleuchtung. In jeder U-Bahn-Station gibt es psychologisches Fachpersonal, aber auch medizinische Mit­ar­bei­te­r:in­nen sowie einen Sicherheitsdienst. Es wirkt, wie eine Mutter später sagen wird, wie der sicherste Ort der Stadt. „Wenn wir die Möglichkeit hätten, würden wir alle U-Bahn-Stationen mit Klassenräumen ausstatten, aber das können wir nicht“, sagt Bürgermeister Terekhov.

Natalja Tschalaja, Lehrerin am Charkiwer Lyzeums Nr. 34, unterrichtet ebenfalls in der U-Bahn-Schule. Sie findet es bedauerlich, dass die Erst­kläss­le­r*in­nen wegen des Krieges vorab keinen Kindergarten hätten besuchen können. Dennoch hätten sie die ersten Unterrichtsstunden sehr positiv aufgenommen. „Sie freuen sich, dass sie zusammen sein, sich an den Händen halten und miteinander reden können.“

Viele haben wegen Corona und des Kriegs keinen Kindergarten besucht, sagt Lehrerin Elena Rudakova Foto: Juri Larin

Verstört und wortkarg

Dann wird sie nachdenklich. „Wir wissen noch nicht, wie alles weiter geht. Doch die Stimmung ist gut. Die Kinder hören zu. Ich denke, alles wird klappen. Aber es dauert eben einige Zeit, bis sich alle daran gewöhnt haben.“ Probleme für die Kinder, nach dem Krieg von der U-Bahn in die Regelschule zu wechseln, werde es keine geben, sagt sie noch.

Der Schultag ist wie im Flug vergangen. Nach drei Unterrichtsstunden drängen die Kinder an den Ausgängen. Viele sind etwas wortkarg, sie scheinen wirklich davon entwöhnt zu sein, zu kommunizieren. Einige wirken erschöpft und unglücklich darüber, noch keine Freunde gefunden zu haben. Andere verlassen die Metro-Schule jedoch mit einem Lächeln und freuen sich schon auf den nächsten Schultag.

Wie auch die Eltern, die gekommen sind, um ihren Nachwuchs persönlich von der U-Bahn-Schule abzuholen. Der Rücktransport der Kinder in ihre Wohngebiete erfolgt jedoch organisiert mit Bussen.

Die Erstklässlerin Sofia Tscherewan und ihre Mutter Jana tragen Blusen, die mit ukrainischen Motiven bestickt sind. Sofia wirkt verschlossen, ganz anders als ihre Mutter. „Die U-Bahn in Charkiw ist der sicherste Ort der Stadt. Deshalb habe ich auch keine Angst davor, meine Tochter in die U-Bahn-Schule zu schicken. Und überhaupt: Ich möchte nicht, dass sie nur online lernt. Sie soll Erfahrungen sammeln“, sagt die Frau.

Kein Recht auf Entspannung

Die U-Bahn in Charkiw ist der sicherste Ort der Stadt. Deshalb habe ich auch keine Angst davor, meine Tochter in die U-Bahn-Schule zu schicken. Und überhaupt: Ich möchte nicht, dass sie nur online lernt

Mutter von Erstklässlerin Sofia

Sie habe ihrer Tochter vor Beginn des Unterrichts erklärt, warum dieser in der U-Bahn stattfinde und wer die Ukraine angegriffen habe. „Ich habe ihr gesagt: Während des Krieges ist es nicht sicher in der Schule, aber auch nicht gut, nur zu Hause zu lernen. Jetzt gehst du in die U-Bahn und bist nur teilweise zu Hause. Aber dann helfe ich dir, du wirst nicht alleine sein“, erzählt sie.

Ein paar Meter weiter unterhält sich die Direktorin der Bildungsabteilung des Stadtrats von Charkiw, Olga Demenko, mit einer Mutter über die Lehrkräfte. Diese hätten kein Recht zu entspannen, denn es gehe um kleine Kinder. „Die Lehrkräfte, die hier arbeiten, sind die besten“, sagt sie. Der Bürgermeister hat klar gesagt: Nur wer arbeiten will, wird in der U-Bahn arbeiten. Das heißt, sie sind mutig, klug, kreativ. Diese Leh­re­r*in­nen hat niemand gezwungen, hier zu arbeiten. Hier sind nur die, die das wirklich wollen.“

Aus dem Russischen von Barbara Oertel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!