Schulanfang in Berlin: Neues Jahr, alte Probleme
Die Krise an den Schulen setzt sich fort: Lehrkräfte fehlen, die Kinder fallen bei Vergleichstests durch, die Toilettensituation ist bedenklich.
Neues Schuljahr, alte Probleme: Für über 350.000 Berliner Kinder und Jugendliche geht ab diesem Montag die Schule wieder los. „Wir werden jungen Menschen die bestmöglichen Zukunftschancen eröffnen“, hatten CDU und SPD im April in ihrem Koalitionsvertrag vollmundig versprochen. Nun ja. Tatsächlich ist davon im hauptstädtischen Schuluniversum noch nichts angekommen. Die Mangelwirtschaft geht in die nächste Runde.
Nach wie vor fehlen Lehrerinnen und Lehrer
Eine Zahl hat Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) bisher nicht rausgerückt. Aber es ist absehbar, dass der Lehrer*innenmangel weiterhin gravierend bleiben und vermutlich noch stärker ausfallen wird als im vergangenen Schuljahr.
Erstens lernen so viele Schüler*innen wie noch nie an den 706 öffentlichen allgemeinbildenden Schulen: Die Zahl steigt zum neuen Schuljahr noch einmal um rund 6.500 Kinder und Jugendliche auf nun rund 353.300 Schüler*innen. Dazu kommen gut 41.800 Schüler*innen an Schulen freier Trägerschaft.
Zum Zweiten hatte sich bereits vor den Sommerferien eine Kluft von 1.460 fehlenden Vollzeitstellen aufgetan. Im Vorjahr waren rund 1.000 Lehrer*innenstellen unbesetzt geblieben. Die Senatorin verweist darauf, dass sich mehr Personen beworben hätten als erwartet. Dagegen rechnet die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) vor, dass rund 2.500 Lehrer*innen fehlen, da viele aufgrund der hohen Belastungen nur für Teilzeitstellen zu haben sind. Genaue Zahlen will Günther-Wünsch Ende September bekannt geben.
Wie lange der Zustand noch andauern wird? Günther-Wünsch sagt: „Oje, da müsste ich in die Glaskugel schauen.“ Besagte Glaskugel hatte schon ihre Amtsvorgängerin Astrid-Sabine Busse (SPD) beständig herbeizitiert, wenn sie nicht weiterwusste.
Doch Lehrer*innenmangel hin oder her, der Unterricht wird trotzdem abgedeckt, heißt es von der Bildungsverwaltung. Die Schulen können auch Sozialarbeiter*innen, pädagogische Unterrichtshilfen, Logopäd*innen, Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen oder Ergotherapeut*innen einstellen, die mit ihrer Arbeit die Lehrer*innen entlasten sollen – etwa für Sprachförderung oder Integrationsstunden.
Berliner Kinder unter Dummheitsverdacht
Pünktlich zum Schulstart gab es dann auch noch diese schlechte Nachricht: Berliner Schüler*innen schneiden in bundesweiten Vergleichstests richtig schlecht ab. Nach den Ergebnissen der Vera- 3-Tests kann jede*r Drittklässler*in kaum lesen und rechnen. Unter den Achtklässler*innen zeigte sich bei den Vera-8-Tests, dass rund 60 Prozent leichteste Deutsch-Lese-Aufgaben nicht lösen konnten. In Mathematik kamen 77 Prozent beim Thema Messen und 65 Prozent beim Thema funktionaler Zusammenhang nicht auf Mindeststandards. „Diese Ergebnisse sind, in einem Wort: katastrophal“, sagt der Vorsitzendes Landeselternausschusses, Norman Heise.
An den Schulen finden in der Regel jedes Jahr verpflichtende Vergleichsarbeiten in den Klassenstufen 3 und 8 statt. Es waren die ersten Vergleichstests nach der Corona-Pandemie mit teils langen Phasen ohne regulären Präsenzunterricht.
Auch die Bildungssenatorin nennt die Ergebnisse „nicht hinnehmbar“. Sie hat angekündigt, dass die Ergebnisse der Vergleichstests in Zukunft für jede Schule gesondert ausgewertet werden sollen. Zudem sollen auch an Grundschulen Fachbereichsleiter für Deutsch und Mathe benannt werden, die dann auf Basis der Daten aus den Vergleichsarbeiten die „qualitative Unterrichtsentwicklung“ vorantreiben. Fachbereichsleiter gibt es bislang nur an weiterführenden Schulen. Landeselternsprecher Heise begrüßt den Plan.
Voller Lernspaß in vollen Klassen
Auch wenn genaue Zahlen zum aktuellen stadtweiten Defizit an Schulplätzen erst im Herbst vorliegen werden, ist bereits jetzt klar, dass vielerorts die öffentlichen Schulen weiterhin aus allen Nähten platzen werden.
Zu Beginn des vergangenen Schuljahrs belief sich die Differenz zwischen den Kapazitäten und dem eigentlichen Bedarf auf rund 20.000 Plätze. Seither sind, wie Bildungssenatorin Günther-Wünsch nun stolz verlauten ließ, zwar rund 8.000 zusätzliche Plätze in neu errichteten Schulen und Modularen Ergänzungsbauten geschaffen worden.
Dass die 2016 von Rot-Rot-Grün beschlossene Schulbauoffensive mittlerweile aus den Puschen gekommen zu sein scheint, ändert dennoch herzlich wenig an den beengten Verhältnissen. Denn auf der anderen Seite ist im Vergleich zum Vorjahr eben auch die Schüler*innenzahl erneut massiv angestiegen.
Man muss kein Mathegenie sein, um zu erkennen, dass die Schaffung der zusätzlichen Plätze die Situation nur geringfügig entschärft, wenn überhaupt. Im Endeffekt wird man sich daher auch in diesem Schuljahr mit den berüchtigten „schulorganisatorischen“ Maßnahmen abgeben müssen: zu Klassenzimmern umfunktionierte Fach- und Horträume hier, überbelegte Schulklassen dort.
Oder wie es Ex-Senatorin Busse einmal kindgerecht formuliert hat: „Ja, jedes Kind braucht einen Stuhl. Irgendwo muss es ja drauf sitzen. Und den pack ich dann natürlich mit in die Klasse.“
Geflüchtete bleiben draußen vor der Tür
Oder auch nicht. Rund 1.100 geflüchtete Kinder und Jugendliche haben zum Schulstart jedenfalls trotz der gesetzlich verankerten Schulpflicht und dem Recht auf Schule ab dem ersten Tag nach der Ankunft keinen Schulplatz bekommen. Da half auch keine Schulbauoffensive. Die Plätze reichen schlichtweg nicht für alle.
Die Folge für die jungen Geflüchteten, die auf langen Wartelisten stehen: andauernde Nichtbeschulung. Um diese Probleme zu umgehen, setzt die Bildungsverwaltung auf tagesstrukturierende und schulvorbereitende Maßnahmen. Hierzu gehören etwa die Schulersatzprogramme in der Flüchtlingsunterkunft Tegel, das Projekt „Fit für die Schule“ oder die „Karussell-Lernwerkstätten“ in Kreuzberg. Dass diese Angebote den klassischen Schulbesuch nicht ersetzen können, liegt auf der Hand.
Eine Studie bestätigt: Die Klos sind dreckig
Berliner Schulklos sind kaputt, dreckig und stinken. Zu diesem zugegebenermaßen wenig überraschenden Fazit kommt eine jetzt vorgestellte Studie der German Toilet Organization und des Instituts für Öffentliche Gesundheit und Hygiene der Uni Bonn.
Insgesamt wurden hierfür die Sanitäranlagen von 17 Schulen untersucht und fast 950 Neuntklässler*innen befragt. Die Mehrheit der befragten Schüler*innen nimmt demnach die Schulklos als negativ wahr, nur 13 Prozent haben das Gefühl, dass sich um ihre Toiletten gekümmert wird.
Neben dem Zustand, dem Schmutz und dem Geruch bemängelten Schüler*innen auch den Vandalismus auf den Schultoiletten. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass weniger Vandalismus maßgeblich vom Verhalten der Nutzer*innen abhängig ist. Eine offene Kommunikation und Einbeziehung der Schüler*innen in Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse könne Vandalismus entgegenwirken, bestätigt Studienleiterin Svenja Ksoll.
Knapp die Hälfte der befragten Schüler*innen gab an, den Gang zur Schultoilette aufgrund des desolaten Zustands der Anlagen und wegen fehlender Privatsphäre zu vermeiden. Auf die Frage, ob Schüler*innen in der Schule weniger essen oder trinken, um die Toiletten nicht nutzen zu müssen, antwortete über ein Viertel der Befragten, immer oder häufiger weniger zu sich zu nehmen.
Der Senat will übrigens Ende des Jahres eine eigene Umfrage zur Zufriedenheit mit den sanitären Verhältnissen an den Schulen starten – große Erkenntnisgewinne sicherlich garantiert.
Fromm zu sein bedarf es wenig
Zu den schulpolitischen Prioritäten von Schwarz-Rot gehört dafür ein Projekt für die schwindende Gruppe der Berliner Gläubigen: die Einführung des Wahlpflichtfachs Weltanschauungen/Religion. In Berlin wird bislang ab Jahrgangsstufe 7 das Fach Ethik als Pflichtfach gebüffelt. Es ist die Gegenkomponente zum Religionsunterricht, der – im Gegensatz zu den meisten anderen Bundesländern – bislang ein freiwilliges Zusatzfach ist.
Damit soll nach dem Willen von CDU und SPD nun Schluss sein. Schüler*innen sollen sich zwischen Ethik und Religion entscheiden müssen. Und ältere Generationen erinnern sich: 2009 hatte es einen entsprechenden Volksentscheid der Initiative „Pro Reli“ gegeben, mit dem ebendies durchgesetzt werden sollte. Die Wahlbeteiligung war kläglich, der Entscheid scheiterte krachend. Nun soll das Vorhaben von oben durchgesetzt werden.
Wann genau es losgeht mit dem neuen Wahlpflichtfach Religion, ist indes ungeklärt. In diesem Schuljahr auf jeden Fall nicht, so viel steht fest. Und auch ein Start im Sommer 2024 ist aktuell wohl nicht geplant. Die Bildungsverwaltung teilt auf Anfrage mit, dass die Gespräche laufen.
Wer sich neben CDU und SPD überhaupt für den Religionsunterricht interessiert? Eine Statistik der Senatsverwaltung zeigt, dass immer weniger Schüler*innen den freiwilligen katholischen oder evangelischen Religionsunterricht wählen. Das ebenfalls freiwillige Fach Humanistische Lebenskunde verzeichnete hingegen einen deutlichen Anstieg der Teilnehmer*innenzahl. Amen.
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