Schüler über „Berlin Rebel High School“: „Das ist gewolltes Chaos“
Simon Schaake hat sein Abitur an der Schule für Erwachsenenbildung nachgeholt. Im Interview erzählt er, warum die Schule einen Film wert ist.
taz: Herr Schaake, ganz spontan: Was ist Ihr erster Gedanke bei dem Wort „Schule“?
Simon Schaake: Ganz klar: Druck.
Warum?
Weil ich mich in der Schule nie so frei entfalten konnte, wie ich das wollte. Da gab es viel zu strikte Lehrpläne, die nicht auf die Kinder eingehen. Ich war gezwungen, Fächer, die mir einfach nicht lagen – Musik zum Beispiel – mit unmotivierten Lehrern durchzuziehen. Und zwar in einer Situation ständigen Konkurrierens. Diese Ellbogengesellschaft war letztlich der Grund, warum ich von der staatlichen Schule abgegangen bin.
Am heutigen Donnerstag startet in den Kinos mit „Berlin Rebel High School“ ein Dokumentarfilm über die Schule, die Sie doch noch zum Abitur geführt hat. Warum ist die Schule für Erwachsenenbildung (SFE) einen Film wert?
Weil es diese Form des Lehrens und Lernens so, glaube ich, in Deutschland nicht noch einmal gibt. All das, was den Leistungsdruck an staatlichen Schulen ausmacht, gibt es dort nicht. Stattdessen lernt man, Verantwortung zu übernehmen – sich selbst und anderen gegenüber.
Die Schule für Erwachsenenbildung (SFE) ist eine selbstverwaltete Einrichtung des zweiten Bildungswegs im Mehringhof in Kreuzberg. Sie bereitet Schüler*innen auf den Mittleren Schulabschluss oder das Abitur vor, die Prüfungen werden extern an staatlichen Schulen abgelegt. Gegründet wurde die Schule 1973 nach einem antiautoritären Schulstreik an der privaten Gabbe-Lehranstalt. Sie finanziert sich über ein monatliches Schulgeld von 160 Euro. Aktuell lernen dort rund 200 Schüler*innen. Im Jahr 2016 wurde der SFE einer der zweiten Plätze des Deutschen Schulpreises verliehen.
Für den Dokumentarfilm „Berlin Rebel High School“ hat Alexander Kleider Schüler*innen der SFE auf ihrem Weg zum Abitur begleitet. Der Film feierte Premiere auf dem Austin Film Fest 2016 und gewann dort den Publikumspreis der Kategorie Dokumentarfilm. Er war nominiert als Bester Dokumentarfilm des Deutschen Filmpreises 2017. Am Donnerstag, 11.5., startet der Film in den deutschen Kinos. (dir)
Wie genau sieht das aus?
Es gibt keine Anwesenheitspflicht, keine Noten, keine Hausaufgaben. Die Schule ist selbstverwaltet und basisdemokratisch – jeder Mensch hat eine Stimme, egal ob Lehrkraft, Schüler oder Büroangestellter. Alle zwei Wochen wird in der Vollversammlung über alles diskutiert, was so ansteht – ein neuer Anstrich der Wände, die Höhe des Schulgelds oder der Putzplan. Denn geputzt wird von den Klassen reihum.
Keine Noten, keine Klausuren, und Klassen können sogar ihre Lehrer*innen abwählen – endet das nicht im totalen Chaos?
Doch, klar. (lacht) Ich würde sagen, das ist gewolltes Chaos – diese bestimmte Prise Anarchie. Der Filmtitel „Berlin Rebel High School“ sagt es ja schon: Die Schüler an der SFE sind allesamt Rebellen – wenn auch jeder auf seine Weise.
29 Jahre alt, studiert Verkehrswesen an der Technischen Universität (TU) Berlin. Er hat von 2009 bis 2012 die „Schule für Erwachsenenbildung“ in Kreuzberg besucht. Im Frühjahr 2012 bestand er die Abiturprüfung mit einer Note von 2,9.
Was heißt das?
Jeder, der da landet, hat seine Geschichte. Und das ist meistens eine Geschichte des Scheiterns: am staatlichen Schulsystem, am Druck, an Autorität, an der Leistungsgesellschaft. Aber alle raufen sich genug zusammen, um die Schule am Laufen zu halten. Für uns alle war es die letzte Chance aufs Abitur oder den Mittleren Schulabschluss. Ich bin kein Punk, der seine Rebellion nach außen trägt – aber meine schlechten Noten waren doch eine innerliche Rebellion gegen das Schulsystem.
Wogegen genau mussten Sie vorher rebellieren?
Gegen den Umgang miteinander – vonseiten der Lehrer, aber auch unter den Schülern. Ich war im ersten Jahrgang am neu eröffneten Hans-Carossa-Gymnasium in Kladow – da haben sonst vor allem wohlhabendere, gutbürgerliche Familien ihre Kinder hingeschickt. Die finanziellen Verhältnisse in meiner Familie waren vollkommen in Ordnung; meine Mutter ist Fotolaborantin, mein Vater Journalist. Aber wir hatten halt zu wenige Nullen auf dem Konto. Manche der Mitschüler waren mir gegenüber sehr herablassend und arrogant.
Haben Sie ein Beispiel?
Einmal hatten wir einen Stuhl zu wenig in der Klasse. Ein Schüler, der mir besonders negativ im Gedächtnis geblieben ist, kam sehr spät und hat sich meinen Stuhl genommen. Ich war schon da, aber gerade nicht am Platz. Als ich mir den Stuhl zurückholen wollte, sagte der andere zu mir: „Gib den wieder her – dir gehört hier gar nichts. Meine Eltern zahlen immerhin Steuern im Gegensatz zu deinen.“
Das ist hart.
Ja, aber es war ja nicht nur das. Es war auch dieser wilhelminische Geist, der an deutschen Gymnasien immer noch vorherrscht. Statt die individuellen Fähigkeiten jedes Schülers zu fördern, wird nur aussortiert. Da werden die Schüler nicht zum Denken erzogen, sondern zum Gehorchen. In Kladow mussten wir noch bis zur neunten Klasse aufstehen, wenn der Lehrer den Raum betrat. Als ich die zehnte Klasse wiederholen musste, habe ich ans Freiherr-vom-Stein-Gymnasium in Spandau gewechselt. Da war es zwar menschlich besser, meine Noten blieben aber schlecht. Die Resignation hat mich faul gemacht, ich kam mit dem Druck nicht klar. Als ich dann auch die elfte Klasse nicht bestanden habe, musste ich gehen – und blieb auf einem sehr schlechten Realschulabschluss sitzen. Selbst eine Ausbildung zu finden wäre damit schwer geworden. Und das war ja auch nicht mein Ziel, ich habe mich immer als Abiturient gesehen.
Wie kamen Sie zur SFE?
Ich war dann in einer Art Selbstfindungsphase, habe ein halbes Jahr im Kindergarten gearbeitet, dann eine Weile bei meinem Vater im Pressebüro. Irgendwann kam der Brief vom Kreiswehrersatzamt, da war ich gezwungen, irgendwas zu machen. Ich habe dann meinen Zivildienst in Frankreich gemacht und im doppelten Sinn meine Koffer gepackt, all den Stress in Berlin zurückgelassen. Da reifte das erste Mal der Gedanke, dass ich das Abitur ja auch auf anderem Weg nachholen kann. Mein Vater hat mir dann von der SFE erzählt, und ich habe mich angemeldet.
Abiturienten der SFE müssen die Prüfung an einer staatlichen Schule ablegen – und zwar in acht Fächern. Für andere Berliner Gymnasiasten sind es nur fünf. Wie gut haben Sie sich vorbereitet gefühlt?
Sehr gut sogar. Man hat zweieinhalb Jahre Zeit, sich ausschließlich auf diese Prüfungen vorzubereiten. Als ich 2009 an die Schule kam, war ja klar, dass ich für die Matheprüfung Vektor- und Wahrscheinlichkeitsrechnung beherrschen muss. Die Lehrpläne an der SFE sind zwar an die staatlichen Pläne angelehnt, aber der Unterricht ist viel flexibler, es gibt viel mehr Raum für Wiederholungen. Wie viel man von den Möglichkeiten mitnimmt, hängt aber an jedem Schüler selbst.
Inwiefern?
Einige kommen mit einem sehr blauäugigen Bild an die SFE. Sie hören „antiautoritäre Schule“ und denken: „Super, da werde ich auf Händen durchs Abitur getragen.“ Aber das Gegenteil ist ja der Fall. Es kommt viel eher dem Lernen an der Universität nahe: Du musst dich jeden Morgen selbst motivieren, hinzugehen – obwohl du nicht musst. Am Ende zählt das Ergebnis. Wie du den Weg dorthin bestreitest, ist deine Sache. Die Lehrkräfte sind da, um zu helfen – aber wollen musst du es selbst. Manchmal saßen wir nur zu dritt in der Klasse, das war dann quasi Privatunterricht. Die Selbstdisziplin hatten halt nicht alle.
Aber Sie schon?
Ja. Es gab nur einmal eine Woche, in der ich nicht zum Unterricht gegangen bin. Klar bin ich mal zu einer Stunde nicht erschienen, oder ich bin früher gegangen oder später gekommen. Aber den Stoff habe ich immer nachgeholt.
Offenbar mit Erfolg.
Am Ende habe ich mein Abitur mit Noten bestanden, die mir meine früheren Lehrer niemals zugetraut hätten. Am Gymnasium hatte ich immer eine Fünf in Mathe – im Abitur habe ich die Prüfung mit 14 Punkten bestanden, also einer glatten Eins. Dass ich es an den staatlichen Schulen nicht geschafft habe, liegt also ganz offensichtlich nicht an meiner Intelligenz.
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