Kommentar: Schröders Risiko
■ Die SPD ist für und gegen den Atomausstieg, beides möglichst schnell
Noch nie ist jemand aus Tarifverhandlungen herausgekommen, wie er zuvor in sie hineingegangen ist. Das wird beim Atomausstieg nicht anders sein. Deshalb ist es müßig, heute aufgeregt über einen fünf, acht, zwanzig oder dreißig Jahre währenden Prozeß zu debattieren. Solche Zahlenspiele können demonstrative Orientierungsmarken setzen, die das Publikum mit dem Gedanken vertraut machen, daß Verhandlungen über das Ende der Risikotechnologie, so sie denn stattfinden, hart werden. Abgerechnet wird aber auch in diesem Fall hinterher.
Trotzdem birgt die Debatte um den Atomausstieg, wenn sie zum Dauerbrenner wird, ein hohes Risiko. Für Gerhard Schröder mehr noch als für die Bündnisgrünen. Ein Auslaufzeitraum von zwanzig oder dreißig Jahren ist schwerlich vereinbar mit dem im SPD-Wahlprogramm versprochenen „Ausstieg so schnell wie möglich“. Mehr noch: Er bedeutet faktisch den Verzicht auf das Primat der Politik auf einem der am heftigsten umkämpften Felder der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.
Daß das mit den Grünen nicht geht, muß nicht eigens erwähnt werden. Es geht aber auch mit der SPD nicht. Schröder hat für seine atompolitischen Vorstellungen in der eigenen Partei keine Mehrheit. Der Streit wird um so rascher auch öffentlich hochkochen, je sicherer sich die Sozialdemokraten ihres bevorstehenden Wahlsiegs sind. Ein Strohhalm für Pfarrer Hintze.
Schröders taktische Anbiederung an die vermeintliche Mitte – seine atompolitischen Äußerungen sind natürlich Teil dieses Programms – wird innerparteilich genau solange ertragen, wie sie die rot-grüne Option nicht wirklich gefährdet. Dieser Schwelle ist der Kanzlerkandidat nun gefährlich nahe. Über zwanzig oder dreißig Jahre bis zum Atomausstieg läßt sich eben mit Kohl, kaum aber mit Fischer reden. Schröder muß sich entscheiden, ob er seine energiepolitischen Überzeugungen weiter mit PreussenElektra abstimmt oder mit seinen atomkritischen Parteifreunden.
Letztere wissen, daß ein mit der Atomindustrie in trauter Eintracht ausgehandelter Atomausstieg diesen Namen nicht verdienen wird. Nicht nur deshalb ist es für den „Abschied von Rot-Grün“ zu früh. Im übrigen kann sich nur verabschieden, wer zuvor „Grüß Gott“ gesagt hat. Gerd Rosenkranz
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