Peter Weissenburger Unisex
: Ich, der Richter oder die Grenze zwischen Leid und Eitelkeit

Foto: Fo­to:­ Tanja Schnitzler

Ein Bekannter hat sich Botox spritzen lassen. Und was soll ich sagen? Ich richte ihn. Ich lächle und stelle interessierte Nachfragen, wie man das bei entfernten Bekannten eben macht. Aber in der Richterstube gehen die Lampen an. Die Sitzung ist eröffnet.

Der Bekannte war wohlgemerkt aus kosmetischen Gründen beim Botoxen, zum Fältchenglätten, das ist wichtig. Denn mit dem Nervengift lassen sich auch Schmerzleiden wie Migräne lindern. Und da zieht die Richterstube die Grenze, nicht wahr? Zwischen echtem Leid und der schnöden Eitelkeit.

Mit der Eitelkeit ist das so eine Sache. Ein gesundes Körperbild wollte ich dieses Jahr nähren. Mich nehmen wie ich bin, für Fotos nicht mehr in Pose gehen, mich vor dem Spiegel nicht mehr verdrehen. Nichts mehr kaschieren.

Und dann spielt mir ausgerechnet der Deutschlandfunk am frühen Morgen, wenn ich am verletzlichsten bin, eine Reportage über Haartransplantationen vor. Männer, die ins Mikro sagen, wie sie diesen Tag ersehnt haben. Danke, Radio. Gut möglich, dass diese Männer extreme Fälle frühen starken Haarausfalls sind, und ich habe ja nur eine wachsende Geheimratsecke. Aber ab wann meine Eitelkeit zu echtem Leid wird, hat die Reportage nicht gesagt.

Womöglich leide ich ja unter „Besonderheiten wie einer sehr hohen Stirn“, so steht es in einem Native-Advertising-Artikel auf Süddeutsche.de. Native Advertising ist Englisch für Werbung, die aussieht wie ein journalistischer Artikel. Auch faz.net hat eine: „Etwa 80 Prozent der Männer und ein Drittel aller Frauen leiden Studien zufolge im Laufe ihres Lebens unter krankhaftem Haarverlust.“ Haben Sie das gehört? Achtzig Prozent leiden und sind krank. Darauf einen Schluck Minoxidil direkt aus der Flasche.

Aber ich war ja dabei, den gebotoxten Bekannten zu richten. Hier das Plädoyer der Anklage: „Kosmetische Eingriffe haben Suchtpotenzial. Jede Retusche eines vermeintlichen Makels macht nur den nächsten sichtbar.“ Und das Plädoyer der Verteidigung? „Kosmetik ist so eine Sache“, murmelt der Freund salomonisch von der Couch, „auf gesellschaftlicher Ebene verwerflich und auf individueller verständlich.“ Na, schönen Dank auch.

Die Fünftage­vorschau

Mo., 13. 2. SimoneDede AyiviDiskurspogo

Di., 14. 2. Saskia HödlKinderspiel

Mi., 15. 2.Lin HiersePoetical Correctness

Do., 16. 2.Noemi MolitorSubtext

Fr., 17. 2.

Volkan Ağar

Postprolet

kolumne @taz.de

Ich finde ein Männermagazin, das mir rät, die Geheimratsecke durch einen Seitenscheitel in Szene zu setzen. Makel zu betonen, strahle Selbstbewusstsein aus, steht da, das sei sexy. Ich frage mich, ob so ein Ratschlag jemals in der Menschheitsgeschichte an eine Frau gerichtet worden ist. Ich weiß nun: Solange ich außen ins binär-männliche Raster falle und keine allzu arge Dysphorie gegen dieses Gender entwickle, brauche ich fast nix machen für die Sexyness. Wie beruhigend! Denn so halte ich meine guten Vorsätze ein und ich kann den Bekannten in Ruhe verurteilen. Denn der checkt ja offenbar seine männlichen Privilegien nicht.