Schöff*innenwahl 2023: „Es gibt Grund zur Sorge“
Ab nächstem Jahr werden wieder Schöff*innen gewählt. Die AfD sorgt dafür, dass immer mehr Rechte in dieses Amt kommen, sagt der Jurist Joachim Wagner.
taz am wochenende: Herr Wagner, können Sie einmal skizzieren, welche Stufen durchlaufen werden müssen, um Schöff*in oder ehrenamtliche*r Richter*in zu werden?
Joachim Wagner: Die Wahl erfolgt in zwei Stufen. In der ersten werden Vorschlagslisten für das Ehrenamt von Gemeinden und Stadträten erstellt, die dann an Gerichte weitergeleitet werden. In der zweiten Stufe entscheiden dann die Richterwahlausschüsse an den jeweiligen Gerichten über die endgültige Auswahl der Schöff*innen und ehrenamtlichen Richter*innen aus den Listen. Solche Ausschüsse werden an allen Gerichten vor den Wahlen gebildet, sofern sie mit Schöff*innen oder ehrenamtlichen Richter*innen besetzt sind. Für beide Wahlinstanzen ist für die Ernennung eine Zweidrittelmehrheit vonnöten.
Das klingt eigentlich simpel. Sie beschreiben jedoch in Ihrem Buch „Rechte Richter“, dass dieses System defekt sei. Was ist damit gemeint?
78, ist Jurist, Autor und Journalist. Der einstige stellvertretende Chefredakteur des ARD-Hauptstadtstudios ist Schöffenexperte. 2021 erschien sein Buch „Rechte Richter“.
Es gibt viele Probleme. Einerseits sind weniger Bürger*innen als erforderlich bereit, dieses Ehrenamt freiwillig zu übernehmen. Sie müssen zwangsverpflichtet werden. Zum anderen ist es festgeschrieben, dass die Wahl der Schöff*innen unpolitisch zu erfolgen hat. Diese Annahme ist seit den letzten Schöffenwahlen 2018 eine Illusion.
Warum?
Seit dem Erstarken der AfD ist ihr Einfluss auf kommunaler Ebene gestiegen. Wie andere rechte Parteien in der Vergangenheit versucht auch die AfD, Mitglieder und Sympathisant*innen zu ermuntern, sich für das Ehrenamt als Schöff*in oder ehrenamtliche Richter*in zu bewerben. In den Kommunalparlamenten einiger Bundesländer haben insbesondere SPD, Linke und Grüne Bewerber auf dem AfD-Ticket bei Schöffenwahlen 2018 verhindert. Dadurch sind die Schöffenwahlen zu einem Politikum mutiert. Das dritte Problem bei der Schöffenwahl liegt in Großstädten. Dort ist es für die Wahlausschüsse auf der zweiten Stufe in der Regel unmöglich, Personen aus politisch problematischen Spektren zu erkennen. Dadurch wird die Wahl zum Blindflug.
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Nach dieser Erläuterung scheint das Wahlsystem doch sehr demokratisch vonstatten zu gehen. So besitzen beide Instanzen eine Kontrollfunktion, um zu verhindern, dass rechtsextreme Personen an das Amt kommen, oder?
Die Gerichte sowie das Gerichtsverfassungsgesetz sind darauf bedacht, dass diese Wahlen unpolitisch stattfinden. Zweidrittelmehrheiten für jeden Bewerber auf beiden Stufen sollen dies gewährleisten. Zudem werden beim Abfragen persönlicher Daten Parteimitgliedschaften absichtlich nicht erhoben. Diese Rechtslage verhindert eine effektive Kontrolle.
Welche Rolle und damit einhergehende Macht besitzen ehrenamtliche Richter:innen?
Rechte Parteien und Gruppen versuchen seit Jahrzehnten, Personen in das Schöffenamt zu bekommen, da es ihnen eine direkte Teilhabe an staatlicher Machtausübung ermöglicht. Tatsächlich ist es aber so, dass Schöff*innen und ehrenamtliche Richter*innen selten den erhofften Einfluss bekommen, da Berufsrichter*innen die Rechtsfindung mit ihrer juristischen Kompetenz meist dominieren. Dennoch gibt es Gerichte, wie etwa das Schöffengericht in der Strafjustiz, wo zwei Schöff*innen den*die Berufsrichter*in bei der Urteilsfindung überstimmen können, was in der Praxis in Ausnahmefällen auch schon vorgekommen ist.
Die kommende Schöffenwahl 2023 wird die zweite mit der AfD als starke Partei in den neuen Bundesländern sein. Wird dies zu einem Rechtsruck bei den bevorstehenden Wahlen führen?
Schon bei den letzten Wahlen von Schöff*innen und ehrenamtlichen Richter*innen 2018 hat die AfD in einigen Bundesländern eine gewichtige Rolle gespielt. Dort hat sie eigene Kandidaten ins Rennen geschickt. In Niedersachsen, Hessen, Bayern, Sachsen-Anhalt und NRW ist es dabei zu erheblichen Konflikten mit SPD, Linken und Grünen gekommen. Dort haben die drei Parteien in Einzelfällen AfD-Bewerber mit ihrer Sperrminorität von über einem Drittel aller Stimmen im Ehrenamt verhindert. Grundsätzlich ist in den neuen Bundesländern das politische Klima anders. Zwar gab es das Phänomen der Sperrminorität auch dort, doch viel häufiger wurden die Vorschläge der AfD abgenickt, um Konflikte zu vermeiden.
Hat die AfD aus diesen Wahlniederlagen gelernt?
In einigen Bundesländern ja. Sie schlägt nicht mehr eigene Kandidat*innen vor, sondern ermuntert Sympathisant*innen, sich eigenständig für das Schöffenamt zu bewerben. Über diesen indirekten Weg gelang es der Partei, dass diese Personen auch gewählt wurden, weil ihre politischen Ansichten nicht bekannt waren. Das wird bei den kommenden Schöffenwahlen wohl wieder passieren.
Vermuten Sie, dass es durch den Einfluss rechter Parteien und Organisationen zu einer Unterwanderung des Schöffenamtes kommen wird?
Ich würde nicht von einer Unterwanderung sprechen, das wäre zu weit gegriffen. Die Partei besitzt bundesweit zu wenig Einfluss und Organisationskraft, um diese Aufgabe zu bewältigen. Bisher handelt es sich hier um ein Randphänomen. Aber es gibt Grund zur Sorge, dass sich Einzelfälle häufen, insbesondere nach dem Rechtsruck auf dem AfD-Parteitag in Riesa. Außerdem wäre es verfehlt, den Blick auf AfD-Anhänger*innen zu verengen. Gefahren drohen aus dem ganzen rechten Spektrum. Ein Dutzend Neonazis, Reichsbürger*innen und Anhänger*innen der Identitären Bewegung sind in der Vergangenheit bereits rechtskräftig aus dem Schöffenamt entfernt worden.
Welche Instrumente besitzt die Judikative, um sich gegen radikale Kräfte zu wehren?
Weil auf beiden Wahlebenen eine unpolitische Auswahl der Kandidat*innen erfolgen soll, ist es immens schwer, Bewerber mit einer rechtsextremistischen Gesinnung von den Vorschlagslisten fernzuhalten. Das mag in kleinen Kommunen noch gelingen, wo man sich persönlich kennt. In größeren Gemeinden und anonymen Städten ist das Entdecken von rechtsextremen Bewerber*innen fast unmöglich. Auch das vorgeschriebene öffentliche Aushängen von Listen mit den gewählten Schöff*innen in Rathäusern hilft in der Regel nicht weiter, weil die keiner liest.
Was, wenn ein konkreter Verdacht besteht?
Zwar wird bereits auf Länderebene diskutiert, ob man den Verfassungsschutz in den Wahlprozess einbinden soll, etwa bei einem konkreten Verdacht gegen eine*n Bewerber*in oder bei der Frage, ob rechte Parteien und Gruppen Mitglieder und Unterstützer*innen vor den Wahlen aufgefordert haben, sich als Schöff*in oder ehrenamtliche*r Richter*in zu bewerben. Solche Anfragen sind in Hamburg und in NRW im Zusammenhang mit „Pro Deutschland“ bereits vorgekommen, aber Ausnahme geblieben. Die politische Diskussion hierüber ist in den Anfängen stecken geblieben.
Kann man überhaupt eine rechtsradikale Person aus dem Ehrenamt entfernen?
Ja, das geht nur auf dem Klageweg vor den zuständigen Gerichten. Dies geschieht vor allem dann, wenn sich Schöff*innen während ihrer Amtszeit außergerichtlich verfassungsfeindlich äußern. Solche Amtsenthebungsverfahren finden selten statt.
Der Bundesjustizminister fordert eine explizit gesetzlich festgelegte Bindung von ehrenamtlichen Richter*innen an die Verfassungstreue – wieso gibt es die nicht längst?
Hier handelt es sich um eine Gesetzeslücke. Schon 2008 hat das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung aufgefordert, sicherzustellen, dass die Verfassungstreue von Schöff*innen und ehrenamtlichen Richter*innen gewährleistet wird. Dies ist bis heute nicht explizit geschehen, wird aber dennoch von der Rechtsprechung so praktiziert. Eine gesetzliche Klarstellung ist trotzdem notwendig. Unser Rechtsstaat darf keine Zweifel an seiner Haltung gegenüber radikalen und antidemokratischen Kräften aufkommen lassen und muss ihnen den Weg auf die Richterbank versperren. Was mit der geltenden Rechtslage nicht ganz einfach sein wird.
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