: Schneller als jede Behörde
Für die Flüchtlinge im Sommer 2015 ist das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales zuständig. Dort herrscht Chaos. Die Hilfsorganisation „Moabit hilft“ springt ein
Aus Berlin Susanne Memarnia
Als Angela Merkel am 31. August 2015 ihr heute legendäres „Wir schaffen das“ sagte, tobte wenige Kilometer vom Bundestag entfernt das Chaos. In der Turmstraße 21 im Stadtteil Moabit, wo das damals für Flüchtlinge zuständige Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) auf einem weitläufigen ehemaligen Krankenhausareal residierte, drängten sich seit Wochen jeden Tag und jede Nacht Hunderte bis Tausende Flüchtlinge.
Verzweifelt versuchten sie, sich registrieren zu lassen, um eine Unterkunft, Geld für Essen und medizinische Versorgung zu bekommen. Sie schliefen vor der Behörde, um am nächsten Tag vielleicht zu einem Sachbearbeiter vorzudringen – oder auch im Park davor, weil sie obdachlos waren.
Das Amt war mit der seit Jahresanfang stetig steigenden Zahl von Geflüchteten völlig überfordert. „Die Menschen standen stundenlang in der Warteschlange, teils bei sengender Hitze. Es gab kein Wasser, kein Essen, keine Krankenversorgung, niemand, der ihnen sagt, wie es weitergeht“, erinnert sich Diana Henniges, die Gründerin von „Moabit hilft“.
Die Hilfsorganisation hatte sich im Jahr 2013 gegründet, um die Bewohner eines neuen Flüchtlingsheims im Stadtteil zu unterstützen. Nun rief die Gruppe über Facebook dazu auf, Spenden zu bringen und in der Turmstraße helfen zu kommen. „Wir waren so geschockt, dass solches Chaos mitten in der Hauptstadt möglich ist – und niemand es bemerkt“, so Henniges.
Der Aufruf war ein Erfolg: Hunderte Menschen brachten Sachspenden oder Zeit mit, die Leute von „Moabit hilft“ begannen, die Hilfe zu koordinieren. „Anfangs war es sehr chaotisch, später haben wir täglich 2.000 warme Essen ausgegeben“, erinnert sich Henniges. Nach viel Drängen bekam die Gruppe einen Platz auf dem Lageso-Gelände, erst in Haus N, dann Haus D, später Haus R. Sie richtete eine Kleiderausgabe, sowie Hygiene- und Lebensmittelstationen ein, organisierte eine Erste-Hilfe-Station mit ehrenamtlichen Ärzten, Hebammen und Pflegern.
Andere Freiwillige wurden je nach Fähigkeit eingesetzt, als Sprachmittler, Tröster, Begleiter, Ratgeber. Wieder andere koordinierten die Hilfe mit anderen neu entstandenen Gruppen wie „Nachts am Lageso“, die private Unterkünfte für obdachlose Geflüchtete organisierte. „Sogar der Sozialsenator hat uns manchmal angerufen“, erinnert sich Henniges, „wenn er jetzt sofort 200 Schlafplätze brauchte.“
Medien aus der ganzen Welt berichteten über das „Lageso-Chaos“ und „Moabit hilft“, auch die New York Times schaute in der Turmstraße vorbei. Aufgrund der großen Aufmerksamkeit gelangte noch mehr Hilfe nach Moabit, selbst der Tourbus von Herbert Grönemeyer half zwischenzeitlich beim Shutteln von Geflüchteten zwischen Turmstraße und Turnhallen, die zu Notunterkünften umgewidmet wurden.
Am 7. September 2015 kam auch Hussein Al Nasir Alshiekh aus Syrien in Moabit an. Heute ist er 30 Jahre alt und eingebürgert, hat in Berlin studiert und arbeitet als Sozialarbeiter in einer Schule im Bezirk Lichtenberg. An die damalige Situation erinnert er sich so: „Es war spätabends, aber vor dem Lageso war es so voll, als wäre Tag. Viele Menschen schliefen auf dem Bürgersteig oder wollten schlafen. Ich ging zu einem Mann mit Weste, der meinte: ‚Herzlich willkommen, du musst hier rein, wenn du es schaffst.‘“
Zwei Monate hat es gedauert, bis Al Nasir Alshiekh registriert wurde. „Ich war fast die ganze Zeit auf dem Gelände, oft auch nachts“, sagt er. In der Zeit des Wartens hat er die Freiwilligen von „Moabit hilft“ kennengelernt. „Die Willkommenskultur hat gut funktioniert, es gab sehr viele Helfer“, erinnert er sich.
Irgendwann hat er angefangen mitzumachen, wenn er das ewige Schlangestehen mal wieder satthatte. „Ich wollte mir die Zeit vertreiben und auch was Sinnvolles machen.“ Er hat Wasser verteilt, andere Hilfsbedürftige angesprochen und sich ihrer angenommen. „Dieses Prinzip von ‚Moabit hilft‘ finde ich bis heute gut: Den Leuten zuhören, was sie brauchen und das anzupacken. Und jeder kann mithelfen mit dem, was er oder sie kann.“
Die „Lageso-Krise“ mit dem Ausnahmezustand in der Turmstraße dauerte ungefähr ein Jahr. Am 1. August 2016 wurde eine neue Behörde gegründet: Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) bekam mehr Mitarbeiter und neue Räume außerhalb der Turmstraße. Die Notunterkünfte in Turnhallen wurden im Laufe des Jahres 2017 wieder geschlossen.
Der Verein „Moabit hilft“ wurde durch die Krise zu einer Instanz: Politiker sind bis heute genervt von der „Meckerliese“, die behördliches Versagen immer wieder ins grelle Licht der Öffentlichkeit zerrt. Zugleich brauchen sie den Verein, der die Folgen des Systemversagens ausputzt, in dem er Betroffenen zu ihren Rechten verhilft – und somit auch schlicht Armut lindert.
Auch bei Geflüchteten ist „Moabit hilft“ seither bekannt wie ein bunter Hund. Zumal dort viele ehemalige Klienten wie Al Nasir Alshiekh weiter ehrenamtlich mitarbeiten. Obwohl der Deutsch-Syrer einen Fulltimejob und wenig Zeit hat, kommt er immer wieder vorbei, übersetzt, begleitet Menschen zu Ämtern – was eben so anfällt. Ihm gefällt der Zusammenhalt, das Freundschaftliche innerhalb der Gruppe. „Wir sind wie eine Familie“, sagt er, „aber sehr durchmischt in den Nationen. Das reflektiert auch ein bisschen Berlin.“
Seine Arbeit hat der Verein im Laufe der Jahre professionalisiert. Neben den etwa zwei Dutzend ehemaligen Geflüchteten, die neue Geflüchtete betreuen, gibt es heute neun Berater für Sozial- und Asylrecht, die vom Verein eine kleine Aufwandsentschädigung gezahlt bekommen. „Wir haben viele Fortbildungen gemacht, vor allem in Sozial- und Asylrecht“, sagt Henniges. „Viele von uns kennen die Rechtslage heute besser als die Mitarbeiter vom LAF oder anderen Behörden.“
Das bewährte sich bei der nächsten großen Krise, dem eskalierenden Ukrainekrieg seit 2022: Wieder versagten die Behörden, wieder rockten Hunderte Bürger mit Organisationen wie „Moabit hilft“, „Schöneberg hilft“ oder der neu gegründeten „Berlin Arrival Support“ einen Großteil der Erstversorgung und Unterbringung der Geflüchteten.
Immerhin: Die Politik – inzwischen regierte in Berlin Rot-Grün-Rot – hatte dazugelernt und versuchte zumindest stellenweise, die Vereine einzubeziehen, indem sie etwa in Krisenstäbe und „Steuerungsrunden“ eingeladen wurden.
Genutzt habe das nicht viel, bilanziert Henniges, denn das praktische Wissen der Helfer sei bei Entscheidungen selten berücksichtigt worden. „Das zieht sich durch die 10 Jahre: Wir als Zivilgesellschaft wurden nie auf Augenhöhe behandelt, immer nur als Helfer in der Not benutzt.“

Dabei haben Ehrenamtliche gegenüber staatlichen Stellen einen entscheidenden Vorteil, der sich vor allem in Krisenzeiten auszahlt: Bürger sind schneller. Ein Social-Media-Aufruf – zack: 500 Wasserflaschen, 1.000 selbst geschmierte Butterbrote und 200 Übernachtungsplätze sind zur Stelle. „Wir sind die kurze Rutsche zum Elend“, sagt Henniges dazu.
Behördlicherseits habe sich seit 2015 nicht so viel geändert, findet sie – außer dem Namen der zuständigen Stelle. In der Tat: Auch das LAF hat personelle Engpässe, viele überlaste Mitarbeiter – und vor allem zu wenig reguläre Heimplätze und zu viele Notunterkünfte. In den Heimen fehlen Sozialarbeiter, es fehlen Unterkünfte für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, es fehlen Schulplätze – vieles davon wurde wieder abgebaut, als die Flüchtlingszahlen ab 2017 rückläufig waren.
Nur ist das Elend anders als 2015 nicht mehr so leicht sichtbar (zum Lageso konnte jeder gehen), sondern gut versteckt hinter dem Stacheldraht von Tegel. Auf dem Ex-Flughafen der Hauptstadt steht seit 2022 Deutschlands größte, teuerste und vermutlich schlechteste Flüchtlingsunterkunft. „Die Menschen werden dort zwischengeparkt und warten oft über Monate auf Leistungen, ihre Krankenkassenkarte, einen Heimplatz oder einen Termin bei der Einwanderungsbehörde“, beschreibt Henniges die Lage.
Und so lange die Behörden es nicht auf die Reihe kriegen, haben die Leute von „Moabit hilft“ gut zu tun. Allerdings gibt es keinen Ort mehr: Haus R auf dem Lageso-Gelände ist seit Mitte Juni Geschichte. Der Mietvertrag war seit Jahren ausgelaufen, die landeseigene Berliner Immobilien Management GmbH (BIM) wollte den Verein erst gar nicht mehr, machte dann ein zu schlechtes Angebot, das die Mehrheit der Vereinsmitglieder nicht annehmen wollte. Termine für Beratungen werden jetzt telefonisch oder online unter moabit-hilft.com/kontakt vergeben.
Al Nasir Alshiekh findet das schade, für ihn war Haus R wichtig, weil hier Helfer und Hilfsbedürftige schnell zusammenfanden und jeder willkommen war. „In Berlin gibt es viel Elend, die Stadt braucht so einen Ort.“
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