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SchlaglochWie antisemitisch sind wir?

■ Von Kerstin Decker

Die Natur des Weibes hat man allzeit ungefähr so beschrieben wie die des Juden

Herr Zwilling ist tot. Der alte Jude aus Czernowitz, Frau Zuckermanns Ritter mit dem traurigen Angesicht.

Herr Zwilling, von Geburt an Pessimist, der auf Frau Zuckermanns Optimismus „Noch einen Stalin, noch einen Hitler wird es bestimmt nicht geben!“ nur antworten konnte: „Sicher kommt ein harter Winter!“ Den hat er nun nicht mehr erlebt.

„Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ von Volker Koepp ist einer der schönsten Dokumentarfilme der letzten Jahre. Im Juni, schrieb Koepp in seinem Nachruf, war Herr Zwilling noch in Berlin. Sie gingen die Oranienburger hinunter. Ein junger Mann stieg vom Fahrrad und begann: Guten Tag, Herr Zwilling, gestern habe ich Sie im Kino gesehen! – „Das ist jetzt schon der Dritte“, sagte der glückliche Pessimist nachher zu Koepp. Herr Zwilling und Frau Zuckermann hatten ihm nie geglaubt, dass es irgend einen Menschen interessieren könne, was zwei alte vergessene Juden aus einer alten vergessenen Stadt erzählen. Und jetzt das! Mitten in Berlin. In Deutschland. Woher dieses tiefe Angerührtsein von zwei fremden Leben, und nun, bei so vielen, von einem doch recht fremden Tod?

Auch Ignatz Bubis ist gestorben. Er hat hier gelebt. Im Tode zog er es vor, das Land zu verlassen. Aus Angst vor dem deutschen Antisemitismus.

Am 23. September kommt ein nicht ganz gewöhnlicher deutscher Film in die Kinos: „Nichts als die Wahrheit“ von Roland Suso Richter mit Götz George als Josef Mengele, „Todesengel von Auschwitz“. Es ist wohl der erste Film über den Holocaust ohne Holocaust. Er zerbricht an dem zu vielen, das er zugleich will. Und er scheitert an der Unmöglichkeit, „Mengele in uns“ zu zeigen. Doch die ersten mahnenden Stimmen bemerken etwas anderes. Der Antisemitismus fehle! Es genüge nicht, ein paar Skinheads zu zeigen, die seien nur Oberfläche. Der eigentliche Antisemitismus komme noch immer aus der Mitte der Gesellschaft. So der Antisemitismusforscher Wolfgang Wippermann von der Freien Universität am Sonntag in Berlin.

Ist der Antisemitismus also so etwas wie ein Naturgesetz? Für das 19. Jahrhundert spricht man vom „gewöhnlichen Antisemitismus“. Richard Wagners Antisemitismus sei von dieser Art gewesen. Ganz gewöhnlich, normal also. Am irritierendsten ist, dass die Juden selbst so oft zu glauben scheinen, das ändert sich nie. Seltsamer Gedanke negativer Erwähltheit. Nichts ist fataler im Grunde. Lea Rosh stellt Auschwitz in eine Kontinuität von Geschichte. Zweitausend Jahre Antisemitismus hätten dorthin geführt. Aber wäre es nicht schlimm, wenn dieser Antisemitismus die Aura des Nichthinterfragbaren, einer negativen Absolutheit gewänne?

Der Germanist Hartmut Zelinsky behauptet, dass Wagners Zivilisationskritik auf einen Vernichtungsantisemitismus hinaus laufe, und erschreckt damit alle Wagnerianer zu Tode. Wagner hatte im „Ring des Nibelungen“ die Schopenhauersche Einsicht vertont, dass die Dinge wirklich schön sind nur aus der Ferne und dass insofern das Rheingold in den Rhein gehöre, als vagabundierendes Kapital jedoch entschieden negative Tendenzen offenbare. Es geht um die Ambivalenz der Moderne, der Industrialisierung, des Fortschritts überhaupt.

Diedrich Diederichsen entlarvte im Berliner Stadtmagazin tip gerade den Hichtech-Weltallschrott „Star Wars“ als antisemitisches Machwerk ersten Ranges. Dieser hässliche Alteisenhändler, der den jungen, unbefleckt empfangenen Erlöser nordischen Typs Anakin Skywalker als Sklaven hält, ähnele entschieden der bekanntesten antisemitischen Stürmer-Karrikatur. tip folgerte weiter, dass Kulturkritik öfter antisemitisch sei und darum besser zu unterlassen. Kann richtig kluges Denken auch dumm machen? Und vor allem: Gibt es Gegenmittel?

Versuchen wir es mit historischer Erfahrung. Das 19. Jahrhundert hielt die Moderne für eine jüdische Erfindung. Der Händler- und Spekulationsgeist wird universal, der Instinkt des Geldverdienens Weltgesetz. Und nichts, keine Moral, bleibt davon unberührt. Man kann die Richtigkeit solcher Behauptung gegenwärtig an den Reformplänen der Bundesregierung gut studieren.

Es gibt wirklich fast nichts mehr, was der Logik des Marktes entzogen wäre. Richard Wagner hat das nur vorausgesehen. Wahrscheinlich wäre er heute Nichtwähler. Andererseits weiß inzwischen jeder, dass die moderne Welt tatsächlich nur so funktioniert. Geldleiher-Sein galt in vorkapitalistischen Zeitaltern als schändlicher Beruf, darum übertrug man ihn den Juden, den „Jesusmördern“. Heute glaubt nicht mal mehr der Papst, dass die Juden am Kreuzestod Jesu schuld sind, und Wucherer ist der Traumberuf schlechthin. Einmal Präsident der Deutschen Bank sein! Wir leben mitten in der Rheingold-Logik und können doch so wenig aussteigen und einfach alles zurückgeben wie einst Wotan. „Den Verträgen bin ich jetzt Knecht.“ Der Gott hat es gewusst. Wer jedoch heute zur Erklärung der Sparzwänge der Bundesregierung anführte, an allem seien die Juden schuld, der hätte einen Therapieplatz sicher. Im 19. Jahrhundert sprach man so.

Nur was hatten die Juden jemals zu tun mit dem Bild, das sich vergangene Jahrhunderte von ihnen machten? Ungefähr so viel wie die Frauen mit dem Bild, das sich die Jahrhunderte von ihnen machten. Die Natur des Weibes hat man allzeit ungefähr so beschrieben wie die Natur des Juden. Keiner höheren Idee fähig, verschlagen, tückisch. Die Frau – der perfekte Jude. Es gibt fast keinen großen Denker, der darüber hinauskommt. An dieser Stelle ein kurzes Bedenken gegen die Frauenforschung. Man kann die großen Philosophen nämlich keineswegs danach beurteilen, was sie über Frauen sagten. Man sollte sie vielmehr nach den Dingen beurteilen, über die sie wirklich nachgedacht haben.

Aber Juden und Frauen vergleichen, darf man das? Kamen die Frauen etwa durch den Holocaust um? Um es hier in aller Eindeutigkeit zu sagen. Dies hier ist keine Erklärung des Holocaust! Das wäre noch einmal ganz anders zu beginnen. Auch ist, man muss das wohl sagen, bei dem Versuch, bestimmte Motive des Antisemitismus zu erklären, keinesfalls an Verharmlosung gedacht.

Der Student der Philosophie Otto Weininger schrieb Anfang des Jahrhunderts „Geschlecht und Charakter“. Er wurde über Nacht berühmt. Er bewies lückenlos das weibliche Untermenschentum. Er war ein großer Frauenhasser. Was bewies er noch? Weininger war Jude. Er war auch ein großer Selbsthasser, sagte Theodor Lessing über ihn und zeigte, dass Weiningers Buch gegen die Frauen in Wirklichkeit ein Buch gegen die Juden war und vor allem – gegen sich selbst. Mit allen bekannten Motiven: Der niedrige, sinnliche Instinkt gehört den Juden (und den Frauen), jede höhere Idee jenen Sphären, die beider Naturell grundsätzlich verschlossen sind. „In diesem jungen Mann ist Kants Zweiweltenlehre verrückt geworden“, schlussfolgert Lessing.

Aber es ist noch etwas anderes. Der „weibliche“ wie der „jüdische Charakter“ ist eine Zurichtung durch jahrhundertelange Herrschaft, die man dann als „Natur“ ausgab. Man machte die Juden zu Wucherern und erklärte das Wucherer-Sein zum jüdischen Naturgrund. Man machte die Frau zur Dienerin, Lustsklavin und erklärte das Dienende, Lüsterne zu ihrem eigentlichen Wesen.

Könnte der Antisemitismus die Aura einer negativen Absolutheit gewinnen?

Adorno hat mal gesagt, man merke es Juden und Frauen an, dass sie lange unterdrückt waren. Vielleicht weil sie bei jedem Widerstand sofort rufen: Frauenfeind! Oder eben: Antisemit! – ? Man dürfte so reden, wenn Auschwitz nicht wäre. Und wenn es nicht neue Regungen des Antisemitismus gäbe. Nur aus dem „ganz gewöhnlichen“ des 19. Jahrhunderts ist er nicht mehr zu erklären. Die traditionellen Bestände des Antisemitismus sind heute ungefähr so glaubhaft wie das Frauenbild des 19. Jahrhunderts.

Andererseits: Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind heute wiederum eine Reaktion auf die Moderne, ihre nochmalige Beschleunigung. Es ist eine Zeit, die neue Sündenböcke sucht. Und der irrationale Grund wird lauter.

Nur bannt man ihn nicht durch vorauseilende geistige Selbstkastration. Durch Böden, die von Wagners Kulturkritik geradewegs zum Vernichtungsantisemitismus führen. Wagners Kulturkritik ist in zentralen Motiven von jener der „Dialektik der Aufklärung“ nur wenig entfernt. „Die Dialektik der Aufklärung“ haben Juden geschrieben.

Bubis wollte nicht in Deutschland begraben sein. Wer im Tode das Land verlässt, in dem er lebte, muss ernste Gründe haben. Herr Zwilling hat in Deutschland am Ende seines Lebens etwas gefunden, was er wohl gerade von diesem Land am wenigsten erwartet hätte. Wirkliche Zuneigung.

Es ist falsch, Auschwitz in eine Kontinuität von Geschichte zu stellen, und es ist falsch, es nicht zu tun. Es wäre fürwahr der schlechteste Zeitpunkt aufzuhören, darüber zu reden. Aber vielleicht sollte man es ein wenig anders tun. Und vor allem zeigen, dass Antisemitismus eines niemals ist – ein erratischer Block.

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