■ Schäuble greift das Unbehagen der Jugend am Sozialstaat auf. Doch seine Alternativen sind trostlos und inhuman: Angriff auf die sozialen Bürgerrechte
In der CDU werden derzeit die Plätze für die Nach-Kohl-Ära ausgehandelt – sie könnte ja früher kommen als erwartet. Die anstehenden Reformen sind daher nicht nur Sachentscheidungen einer Regierung unter extremem Erfolgsdruck, sie sind auch Katalysator zur Klärung ideologischer Orientierungen für die zukünftige christdemokratische Politik. Seehofer hat für die Krankenversicherung die Parole ausgegeben, Eigenverantwortung in der sozialen Sicherung heiße für die Versicherten, das Risiko künftig auf ihre Kappe zu nehmen. Wenige Tage später nahm Schäuble den Ball auf und verdeutlichte in einer Grundsatzrede, daß es um mehr als nur um die Krankenversicherung gehe.
Schäuble plädiert dafür, das Unbehagen der jungen Generation an den „kollektiven Zwangssystemen“ ernstzunehmen. Ein wachsender Teil der Jüngeren könne diesen Systemen nichts mehr abgewinnen, zweifele an der Verteilungsgerechtigkeit, insbesondere zwischen den Generationen, und frage nach Alternativen, die individuellen Lebens- und den Sicherungsbedürfnissen wieder mehr Raum lassen.
Endlich, möchte man da seufzen, endlich einmal macht sich auch ein führender Vertreter der Koalition Anliegen der jungen Menschen zu eigen. „Wir müssen neu darüber nachdenken, wie wir die Menschen wieder stärker motivieren und befähigen können, Selbstverantwortung zu übernehmen, zunächst auf die eigenen Kräfte zu vertrauen und erst wenn diese versagen, nach anderen, dem Staat oder wem auch immer, zu fragen“, so Schäuble.
Gut, denken wir darüber nach. Sind es wirklich die „kollektiven Zwangssysteme“, die uns unsere Individualität und Selbstverantwortung nehmen? Es stimmt, wir müssen uns alle in diesen Systemen versichern. Aber hinter diesem Versicherungszwang steckt ein gutes, rationales Argument: Auf je mehr Schultern Risiken verteilt werden, desto leichter wird die Last für die einzelnen. Sobald man einzelne – zum Beispiel durch die Befreiung von der Versicherungspflicht als vermeintlichen Freiheitsgewinn – oder ganze Gruppen – zum Beispiel die Arbeitgeberseite mit Verweis auf hohe Arbeitskosten – aus der Solidargemeinschaft entläßt, wird es für die verbleibenden Mitglieder schwerer. Wem ist damit geholfen? Den Entlassenen, die eine Gruppe „guter Risiken“ bilden können und sich der Verantwortung für die weniger Starken entzogen haben. Der „Versicherungszwang“ ist der Schutz der Schwachen gegen die Solidaritätsverweigerung der Starken. Jede Polemik gegen das „Zwangssystem Sozialversicherung“ ist daher eine Polemik gegen die gleichmäßige Einbeziehung aller in die gesellschaftliche Lastenteilung und Risikovorsorge.
Denken wir weiter nach: Welche Selbstverantwortung und Eigeninitiative wird durch kollektive Sicherungssysteme erstickt? Man darf getrost davon ausgehen, daß ohne die Existenz von Sozialversicherungssystemen sich die meisten Menschen privat für das Risiko Krankheit oder das Risiko Alter absichern würden. Wer den privaten Geschäftsabschluß als Ausweis von Selbstbestimmung bezeichnen will, hält offenbar die Konsumentensouveränität für den höchsten Ausdruck individueller Freiheit.
Tatsächlich sorgen die angeblichen „Zwangssysteme“ für eine ganz andere Art von Freiheit. Noch nie in der Geschichte gab es eine Generation von alten Menschen, die in derart hohem Ausmaß unabhängig war von der Zahlungsbereitschaft und -fähigkeit ihrer eigenen Kinder. Sie müssen nicht um deren beruflichen Erfolg fürchten oder um deren Elternliebe bangen, sie haben ein autonomes Einkommen. Das ist ein ungeheurer Zuwachs an individueller Freiheit. Ebenso bedeutet es einen persönlichen Freiheitsgewinn, wenn man bei akutem Geldmangel nicht um die eigene Gesundheit bangen muß, sondern Rechtsansprüche auf Unterstützung geltend machen kann. Die kollektiven sozialen Sicherungssysteme statten ihre Mitglieder mit sozialen Bürgerrechten aus. Sie sind daher nicht Hindernis, sondern Voraussetzung für individuelle Freiheit.
Schäuble verwendet die Schlüsselworte des Modernisierungsdiskurses, aber er gibt eine regressive Antwort auf die anstehenden Fragen. Er diskreditiert die bestehenden Strukturen und hat keine Vorstellung davon, wie diese Gesellschaft statt dessen zusammengehalten werden kann. So bleibt ihm nur die Forderung nach starken Werten: Familie, Gemeinde, regionale Identität. Das ist die schlichte neokonservative Botschaft der 90er Jahre: von den Chancen der Globalisierung schwärmen, aber zu deren persönlicher Bewältigung die Nischenbildung empfehlen.
Die bundesdeutsche Sozialpolitik verfällt unter der konservativen Ägide von einem Extrem ins andere. Jahrzehntelang galten die Systeme als sakrosankt, jede kritische Anfrage wurde sofort als Aufkündigung der Solidarität denunziert. Jetzt wird die Skepsis über die Tragfähigkeit der Sozialversicherungen zum Anlaß genommen, deren Auflösung zu betreiben.
Aber auf Skepsis kann man auch mit offener Debatte reagieren, mit Aufklärung und fairen Angeboten. Am Anfang muß Selbstkritik stehen: Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren systematisch durch Leistungskürzungen dazu beigetragen, das „Angebot“ der Sozialversicherungen zu verschlechtern. Für immer weniger Leistungen mußte ein immer höherer Beitrag entrichtet werden. Die Legitimationskrise ist daher hausgemacht. Zukünftig müssen die Systeme so gestaltet werden, daß ihre großen Vorzüge gegenüber der privaten Versicherung auch erkennbar werden. Denn anders als die Privaten zeichnet sich eine Sozialversicherung dadurch aus, daß sie nicht nur bei Eintritt des Versicherungsfalles zahlt, sondern daß sie auch das Risiko absichert, zur Beitragszahlung nicht fähig zu sein. In der Krankenversicherung drückt sich dies beispielsweise in der beitragsfreien Mitversicherung von Familienangehörigen aus. In der Rentenversicherung ist u.a. die Berücksichtigung von Zeiten der Arbeitslosigkeit oder der Kindererziehung Ausdruck des Prinzips. Diese Elemente gehören ausgebaut, gerade weil die Lebens- und Erwerbsverläufe bunter, aber auch unsicherer werden. Die Systeme müssen auf diese Veränderungen eingerichtet werden, dann sind sie ein faires Angebot auch an junge Menschen. Eine Verständigung über das Sicherungsziel der Sozialversicherungen steht an. Das Wissen um garantierte Absicherung ist eine unverzichtbare Voraussetzung für einen individuellen Lebenslauf – sonst wird er zum Drahtseilakt. Andrea Fischer
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