Schaden und Nutzen der Psychiatrie: „Ich nehme gern Psychopharmaka“
Der eine war 21 und hatte Angst vor Menschengruppen – bis er endlich Medikamente bekam. Der andere war nach dem Abi aufgedreht – und wurde einfach weggesperrt.
Wie mir die Diagnose half
Hier steht nirgends mein Name. Ich habe kurz überlegt, ob ich ihn unter diesen Artikel setze. Aber nur wenige Kolleginnen und Kollegen kennen meine seelischen Abgründe. Vielleicht ist das besser so. Eigentlich sollten psychische Störungen heute kein Makel mehr sein. Aber wenn ich erzähle, dass ich seit Jahren Psychopharmaka nehme und das durchaus ein Dauerzustand bleiben könnte, ernte ich oft eine Mischung aus Mitleid und Irritation, die mir unangebracht erscheint. Weil ich damit zufrieden bin. Sehr sogar.
Ich leide unter einer sozialen Phobie. „F40.1“, lautet der Code, den Psychiater dafür verwenden. Die ICD-Klassifikation beschreibt mit diesem Kürzel die „Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen, die zu Vermeidung sozialer Situationen führt“.
Für Nichtbetroffene klingt das eher harmlos. Kennt man ja. Ein bisschen Angst. Aber auch wenn sich eine fauchende Katze und ein fauchender Tiger eigentlich nur im Maßstab unterscheiden: Die Begegnung ist etwas völlig anderes. Und der Phobiker sieht nun mal einen Tiger.
Dass die Bestie für mich fast auf Normalmaß geschrumpft ist, verdanke ich einer Substanz namens (E)-5-Methoxy-1-[4-(trifluormethyl)phenyl]pentan-1-on-[O-(2-aminoethyl)oxim]: Fluvoxamin. Ein modernes Antidepressivum, in Deutschland auch zur Behandlung von Zwängen zugelassen.
Diesen Text finden Sie auch in der taz. am wochenende vom 11./12. Mai 2013. Darin außerdem: die Titelgeschichte „Wo fängt irre an?“, eine Fotoreportage über den Drogenkrieg in Mexiko, ein Porträt von Muhlis Ari, der als „Mehmet“ vor 15 Jahren bekannt und abgeschoben wurde, eine Rezension des neuen Daft-Punk-Albums und drei Karottenrezepte von Sarah Wiener. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo.
Der selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Fluvoxamin hält den Spiegel eines Neurotransmitters aufrecht, der für die Signalübertragung im Hirn zuständig ist und bei Patienten wie mir abzufallen neigt.
Was dann passiert, schildere ich am besten an meinem Urerlebnis. Ich saß damals in einer Arbeitsgruppe, die den Vertreter einer anderen Einrichtung eingeladen hatte. Plötzlich richteten sich alle Augen auf mich: Ich solle dem Gast doch mal ein paar Projekte vorstellen. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich war auf einmal gefangen in einem Körper, der mir nicht mehr gehorchte: mit einem Herz, das die Schlagzahl verdoppelte. Und einem leergefegten Hirn.
„Was war denn mit dir los?“ – solche entgeisterten Fragen hörte ich später von Kollegen immer seltener: weil ich auswich, Heiserkeit vortäuschte oder zur Toilette ging – und nicht wiederkam. Da hockte ich elend auf dem Klodeckel und zählte die Minuten. Bis ich irgendwann den Weg zum Psychiater wagte.
„Warum machst du eigentlich keine Therapie“, fragen mich manche, „statt Pillen zu schlucken.“ Ich habe mal eine Verhaltenstherapie gemacht. Bei mir hat es nicht funktioniert. Vielleicht weil sich jeder „Erfolg“, jede durchzitterte Gruppensituation nur wie eine knapp verhinderte Niederlage anfühlte.
Auch bei den Medikamenten muss man aufpassen. Mein erster Psychiater hatte mir eine sehr niedrige Dosis verschrieben. Als ich nach einem Umzug meinem neuen Arzt erzählte, vor sehr großen Gruppen zu reden könne ich mir immer noch nicht ohne Bauchschmerzen vorstellen, verdoppelte er die Dosierung. „Damit halten Sie bald Vorträge vor ganzen Hörsälen“, sagte er. Innerlich zeigte ich ihm einen Vogel. Bald war ich schlauer.
Der Autor ist taz-Redakteur
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Wie mir die Diagnose schadete
Neulich haben meine Freundin und ich alte Fotos angeschaut: ich mit 18 Jahren und mit 27 – vor und nach der Psychiatrie. Ich bin sehr früh von zu Hause ausgezogen und habe neben der Schule viel gejobbt – in dem Alter denkt man ja, man hätte unendliche Kraft. Wie heftig der Druck auf mir lastete, merkte ich erst, als ich mein Abi bestanden hatte. Die Anspannung fiel ab, ich hatte ein riesiges Gefühl von Freiheit.
In den folgenden Wochen habe ich kaum geschlafen, das Essen und Trinken vergessen. Alle dachten, ich sei auf Drogen, aber das wars nicht. Eines Tages besuchte ich ehemalige Arbeitskollegen in einem Copyshop. Ich war völlig aufgedreht und habe die Leute genervt.
Obwohl der Laden schon zuhatte, blieb ich einfach sitzen, wollte plaudern und ließ mich nicht bewegen, zu gehen. Aggressiv war ich nicht, nur irgendwann reichte es meinen ehemaligen Kollegen, einer rief die Polizei.
Die Polizisten fanden meine Antworten wohl schräg, sie bestellten einen Krankenwagen. In der Klinik sprach ich mit einer Ärztin, eigentlich ganz ungezwungen. Doch als ich gehen wollte, hieß es, ich müsse bleiben, dann wurde ich an eine Liege geschnallt.
Wochenlang wurde ich festgehalten. Die Medikamente waren so heftig, dass ich wie ein Zombie durch die Station schlurfte. Niemand hat das alles mit mir diskutiert. Die Diagnose erfuhr ich erst später: paranoide Schizophrenie.
Ich habe mich nicht verrückt gefühlt, aber eine Fehldiagnose ist schwer zu beweisen. Was normal und was krank ist, lässt sich nicht messen. Was mit mir passierte – die Fixierung, die Psychopharmaka, die ich per Tropf bekam –, war rechtens. Aber als ich nach vier Monaten entlassen wurde, hatte ich Angstzustände und Depressionen, ich dachte an Suizid. Statt 68 Kilo wog ich 107, wegen der Pillen.
Ein halbes Jahr lang habe ich mehr oder weniger im Bett gelegen. Zum Glück hielten einige Menschen zu mir, auch meine Mutter. Meine Diagnose wurde nie infrage gestellt, und wenn ich widersprach, wurde das auf die Krankheit geschoben: Schon klar, du bist eben schizophren und nicht einsichtig.
Jahre später sagte mir ein anderer Psychotherapeut, ich sei wahrscheinlich nie schizophren gewesen, sondern hätte wohl eine Manie gehabt. Zurzeit werde ich wegen einer Anpassungsstörung behandelt, dafür zahlt die Kasse gerade Therapiestunden. Die ursprüngliche Diagnose aber bleibt bis zum Lebensende in den Krankenakten.
Ich habe meinen Wohnort gewechselt, um neu anfangen zu können, denn in meinem alten Heimatort laufe ich mit dem Stempel herum, ich sei verrückt. Deshalb will ich meine Geschichte auch nur anonym erzählen.
Noch immer nehme ich eine geringe Dosis Psychopharmaka. Mein Arzt sagt zwar, ich könne das lassen, aber wenn ich es versuche, habe ich Albträume, bin gereizt, merke es sogar in meiner Körperhaltung.
Früher dachte ich, aus mir würde so ein Workaholic – zwölf Stunden Arbeit am Tag, straffe Karriere. Aber statt zu studieren, machte ich eine Lehre und bin heute Bürokaufmann. Die Diagnose hat mein Leben verändert.
Das Protokoll hat Esther Geißlinger aufgezeichnet.
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