Schachspieler im Exil: Raus aus Russland
Immer mehr Schachspieler wechseln seit dem Krieg in der Ukraine zu anderen Verbänden. Einige positionieren sich gegen die russische Regierung.
D er Massenexodus reißt nicht ab, nachdem 2022 bereits rund 100 Schachspitzenspieler aus Russland die Föderation beim Weltverband Fide wechseln ließen. 2023 haben sich schon wieder an die 100 Spieler umgemeldet.
Ursache für die früher undenkbare Abwanderung aus dem führenden Schachland ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Einen offenen Brief dagegen unterzeichneten 44 mutige Prominente der Szene, darunter Jan Nepomnjaschtschi, der den WM-Titel gegen den Chinesen Ding Liren fast zurück in die früher angestammte Heimat Russland geholt hätte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beherrschten die Sowjets und Russland Schach wie keine andere Sportart. Sie stellten von 1948 mit Michail Botwinnik bis ins Jahr 2007 mit Wladimir Kramnik alle offiziellen Weltmeister – bis auf die Jahre 1972 bis 1975, als der US-Amerikaner Bobby Fischer im „Kampf des Jahrhunderts“ Boris Spasski den Titel entriss. Der Sieg auf Island elektrisierte die Welt und war ein Schock für die Kommunisten. Sie sahen ihre Dominanz im Denksport als Beleg für die „geistige Überlegenheit des Proletariats“. Deshalb genossen Großmeister in der UdSSR hohes Ansehen und wurden privilegiert behandelt.
Ein Ass aus Russland
Aktuell fehlt auf der Unterzeichner-Liste erwartungsgemäß der ehemalige Schnellschach-Weltmeister Sergej Karjakin. Der einst jüngste Großmeister der Welt, der am 12. August 2002 mit zwölf Jahren und sieben Monaten den Titel errang und auf der Krim aufwuchs, gilt als glühender Putin-Verehrer.
Nachdem er die Annexion der Krim 2014 begrüßt hatte, tat der gebürtige Ukrainer dasselbe bezüglich des Krieges via Twitter – und verhöhnte die Opfer in einem offenen Brief. Das war sogar der Ethik-Kommission der Fide zu viel. Sie sperrte Karjakin 2022 für ein halbes Jahr, was ihn eine mögliche zweite Qualifikation für einen WM-Zweikampf kostete.
Beschleunigt hat den Massenexodus noch ein Eigentor des russischen Verbands im Februar: Er schloss sich wegen der Probleme mit der Europäischen Schachunion dem asiatischen Kontinentalverband an. Die Fide reagierte, indem sie russischen Spielern die Möglichkeit einräumte, weiter ein europäisches Land zu repräsentieren. Der Wechsel erfolgt dabei ohne Transferzahlungen. Das nutzten nun einige gerne, um sich ein Ass aus Russland zu angeln.
Eisiges Schweigen
Vor allem die in Russland gebliebenen Großmeister kommentieren das lieber nicht. Es herrscht eisiges Schweigen. Ein Topspieler gab hinter vorgehaltener Hand zu, es sei derzeit besser, nichts zu sagen. Fide-Präsident Arkadi Dworkowitsch, der als Putin-Günstling gilt, äußerte sich auf Anfrage auch nicht zur großen Abwanderungswelle.
Ex-Weltmeisterin Alexandra Kostenjuk, die mit dem russischen Frauen-Team viermal Europameister wurde, wollte sich wegen des Krieges der Schweiz anschließen. Dort lebt die 39-Jährige schon lange und konnte wegen ihres Wohnsitzes auch als erste Frau 2013 Meister der Schweiz werden. Zu Beginn des Krieges initiierte Kostenjuk den offenen Brief der Schach-Promis mit und verließ aus Protest den russischen Verband.
Zunächst spielte sie unter neutraler blauer Fide-Flagge: „Gens una sumus“ (Wir sind eine Familie) prangt darauf. Nachdem der Weltverband seinen russischen Familienmitgliedern kostenlose Transfers ermöglichte, schloss sich die Weltranglistensiebte umgehend den Eidgenossen an. Ansonsten hätte ihr neuer Verband 10.000 Dollar berappen müssen, heißt es auf Wikipedia.
Spitzensportler müssen den Krieg unterstützen
Gar 50.000 Euro wären es laut Nikita Witjugow bei ihm gewesen, wahlweise eine zweijährige Sperre für Fide-Turniere. Der Weltranglisten-25. gehört zum erlauchten Kreis der Großmeister mit einer Elo-Zahl von über 2.700. Nach dem Rating richtet sich die Höhe der Ablöse. Der russische Meister von 2021 zählt zu den wenigen, die gleich zu Kriegsbeginn diesen via Twitter verurteilten.
Als die Fide ihm am 22. März anbot, unter ihrem Emblem anzutreten, zögerte der 36-Jährige keine Sekunde. Für den Bundesligaspieler des deutschen Serienmeisters OSG Baden-Baden war das „ein früher undenkbarer Schritt. Es war für mich immer die größte Ehre und eine besondere Verantwortung, für die russische Nationalmannschaft anzutreten“, betont Witjugow. Dem gebürtigen Sankt Petersburger wurde aber „schnell klar, dass man als Spitzensportler nur dann in Russland leben kann, wenn die offen ausgesprochene Meinung zum Krieg lediglich eine unterstützende ist!“
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