Saufen in der Stadt: Eine Stadt trinkt
Getrunken wird auf der Straße, in Eckkneipen, an langen dunklen Tresen. Nur alleine trinken, das will auch in Berlin keiner.
Tendenz Der Alkoholkonsum ist in Deutschland zurückgegangen: von 15,1 Liter Reinalkohol pro Kopf im Jahr 1980 auf 10,2 Liter im Jahr 2019. Vor allem beim Bier ging der Konsum seit 1990 kontinuierlich zurück.
Jugendliche Besonders deutlich machte sich diese Tendenz in der Altersgruppe der 12- bis 17-Jährigen bemerkbar: 8,7 Prozent der Jugendlichen konsumierten laut Studienergebnissen von 2018 mindestens einmal pro Woche Alkohol. 2004 waren es in dieser Altersgruppe noch 21,2 Prozent gewesen.
Rauschtrinken Wieder angestiegen ist die Zahl der jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren, die zugaben, sich einen Rausch angetrunken zu haben: 37,8 Prozent waren es 2018, 32,8 Prozent im Jahr 2016.
Stadt-Land Laut der bayerischen
trinken mehr Schüler*innen im ländlichen Raum (69 Prozent) Alkohol als ihre Altersgenossen*innen in Großstädten (55 Prozent). Auch das Binge-Drinking ist auf dem Land verbreiteter: 36 Prozent lassen sich dort einmal im Monat volllaufen, gegenüber 24 Prozent in den Großstädten.Es ist Mittwochnacht, halb eins, in der Kupferkanne in Schöneberg. Wir trinken, weil meine Freundin Liebeskummer hat. Zuerst einige Gläser Wein auf dem Balkon, dann zog es uns noch raus, auf ein Bier hier. Wir gehen um halb zwei, der Wirt Necip Çakir wird erst um vier Uhr den Laden dichtmachen.
Die Kupferkanne ist einer der Orte, wie es sie in jedem Berliner Bezirk gibt: eine Kneipe. Inselnest, Gießkanne, Zur Quelle, Warthe-Eck und wie sie alle heißen. Einige Menschen kommen jeden Tag, Stammgäste, andere landen per Zufall für eine Nacht dort. „Die Leute trinken immer. Kneipen sind das Herz der Stadt“, sagt Kupferkannen-Wirt Çakir.
Deswegen beginnt dieser Text auch dort. Denn es geht um die Frage: Wie steht es heute bei der jungen Generation um das Saufen in Berlin? Gibt es eine Trinkkultur im Jahr 2022 in der Großstadt?
In der Kneipe schon. Das Bier ist mehr oder weniger günstig, um die drei Euro, das bedeutet Niedrigschwelligkeit. Hier treffen potenziell verschiedenste Leute aufeinander. Eine Kneipe hat zugleich etwas Beständiges, Interieur und Atmosphäre sind widerstandsfähig gegen Trends. Die Berliner Special Edition der Kneipe ist die 24-Stunden-Kneipe, wie das Urbaneck in Kreuzberg oder der Hecht in Charlottenburg. Sitzt man da um 6 Uhr morgens, denkt man manchmal: Vor 50 Jahren war das nicht anders. Man wird zurückgeworfen auf die essenzielle Funktion dieses Ortes – Alkohol trinken.
Konservativ und langweilig
Hat solch ein Ort noch Zukunft? Schließlich hört man immer wieder, die Jugend sei konservativ und langweilig geworden, denke nur noch an Fitness und einen gesunden Lifestyle. Das zeigt sich sogar in der Statistik (Stand 2018): Von den jungen Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahren trinken 33,4 Prozent regelmäßig – was nicht wenig ist, aber immer noch weniger als 2004 (da waren es 43,6 Prozent).
Auch Binge-Drinking unter Jugendlichen hat abgenommen. Das ist erfreulich. Alkohol ist eine Droge, gesundheitlich und sozial genauso gefährlich wie illegale Drogen, oft verharmlost. Auch in meinem Umfeld, studierende und berufseinsteigende Mittzwanziger, die eher mehr als weniger am Berliner Nachtleben teilhaben.
Da trinken die meisten zu viel, auch ich. Das zeigt eine Umfrage, die ich für diesen Text auf meinem Instagram-Account starte: Wie oft trinkt ihr Alkohol, frage ich da. Rund hundert Freund*innen und Bekannte antworten. 72 Prozent davon trinken häufiger als zweimal die Woche. Davon trinken wiederum 80 Prozent im Schnitt jeden zweiten Tag. Das deckt sich ungefähr mit dem, was ich bei mir selbst beobachte: Ab Mittwoch gibt es bis zum Wochenende Alkohol, dann Sonntag bis Mittwoch eher keinen. Das Anti-Liebeskummer-Trinken in der Kneipe zum Beispiel war ein Mittwoch.
Schließlich ist Frühling
Am nächsten Abend, Donnerstag (oder auch: kleiner Freitag), bin ich wieder unterwegs. Schließlich ist Frühling, nach dem berüchtigten Berliner Winter ist jeder Sonnentag ein Anlass zum Anstoßen. Es geht nach Mitte, weil dort zwei Nichtberliner Freund*innen von mir wohnen. Auch ein Klischee. Wir gehen in die Weinerei am Weinbergspark, wo man sich früher Wein aus der Flasche einschenken konnte und dann auf Vertrauensbasis zahlte. Das ist vorbei (noch so eine Binse, dass früher alles besser war). Also kaufen wir eine Flasche Weißwein und sitzen in alten Stühlen, die nicht zusammenpassen, auf dem Gehweg.
Die Nacht ist lau, das Publikum Mitte zwanzig bis Mitte dreißig, sehr gepflegt, nicht über-hip. Das hier ist mein Guckfenster in die Berlin-Mitte-Start-up-Welt: Mein einer Freund arbeitet in einem Start-up und trinkt an diesem Tag seit 16 Uhr Bier, weil im Büro kollektiv die Balkonmöbel für die Terrasse eingeweiht wurden. Sowas gibts tatsächlich oft, sagt er: „Ich kenne kein Start-up-Gebäude, das keinen Bierkühlschrank hat.“
Später bin ich mit einem anderen Freund verabredet, über den ich wiederum in die Kunstwelt blicken kann. Wir laufen die Potsdamer Straße in Schöneberg entlang, als wir eine Party über einem Woolworth sehen. Eine Ausstellungseröffnung in einer riesigen leerstehenden Halle mit Blick auf den Sexshop LSD. Hier sind auch mal Leute über vierzig am Tanzen und Trinken. Sie strahlen eine zeitlose Coolness aus. Aber man muss im Stehen trinken. Meine Begleitung kennt die Situation. Er sagt: „Ein Drink auf einem Opening tut gut, weil er dich auflockert. Aber du kannst ihn nie richtig genießen, gerade weil du ihn so dringend brauchst.“
Also ab in die Victoria Bar ein paar Hausnummern weiter, wo die Drinks teuer und stark sind. Ein langer, dunkler Tresen ist das Herz des Raumes, an den Wänden hängt wechselnde zeitgenössische Kunst und die Barkeeper*innen tragen Hemd und Krawatte. Heute tummeln sich vor der Tür ein paar um die zwanzigjährige Fashion-Kids, es ist gut was los und tatsächlich: Es sei voll, wir müssten warten, sagt ein Türsteher unfreundlich und macht den gepflegten Cocktail zum Berghain-Erlebnis.
Womit ich an Friedrichshain-Kreuzberg denken muss, Heimat nicht nur des berühmten Clubs am Ostbahnhof, sondern vieler anderer guter Clubs. In die Richtung zieht es uns an diesem Donnerstag nicht mehr, aber in den vergangenen Jahren habe ich mir genug Nächte um die Ohren geschlagen, um allgemein sagen zu können: Drinks in Berliner Technoclubs sind was Interessantes. Denn hier sind sie nur eines von vielen Rauschmitteln, die Menschen sich reinfahren. In Kombination mit illegalen Substanzen wie GHB oder Ketamin wird Alkohol sogar lebensgefährlich. Trotzdem bleibt er der Grundstock der Nacht.
Die meisten Leute in den Clubs trinken Bier. Mein Favorit, um in einen Partyabend zu starten, ist hingegen ein Long Island Ice Tea. Er schmeckt süß und, wenn man Glück hat, nicht zu sehr nach Alkohol, hat es aber faustdick hinter den Ohren. Davon nur einen oder zwei, dann Bier oder Sekt. Dazwischen sind Shots prima, weil sie in Berlin nicht wie in anderen Städten sechs Euro kosten, man somit auch mal einen ausgeben kann und sie wunderbar gesellig sind.
Denn Trinken, das hat mir die Recherche für diesen Text gezeigt, ist vor allem ein soziales Ereignis. Mit Freund*innen, Mitbewohner*innen, Kolleg*innen. Auch in meiner Instagram-Umfrage gaben das viele an. Alleine Alkohol zu konsumieren, ist die unsichtbare Grenze, die keiner überschreiten will.
In großen Gruppen aber werden sie hemmungslos: Vergangenen Sommer trafen sich in Berliner Parks massenweise Jugendliche und junge Erwachsene zum Saufen. Auch das guckte ich mir für die taz an, unter anderem im Mauerpark in Prenzlauer Berg. Der Reiz war schnell klar: Dort lernt man so schnell wie nirgends sonst neue Leute kennen. Ein „Warum seid ihr hier?“, und schon darf man mittrinken und hat Instagram-Kontakte ausgetauscht. Neben der Crowd ist das Geld einer der entscheidenden Faktoren. Ein Bier im Discounter kostet 69 Cent, im Park zu sitzen ist gratis.
Die Alternative dazu ist der Späti, eine berlinweite Institution wie die Kneipe, nur draußen. Ein Tisch, Biere und ein paar Freund*innen, mehr braucht es nicht. Ein Glück, dass die Saison dafür wieder begonnen hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge