Saudische Frauenband Seera: Nach dem Peak Oil gewährt der Prinz einige Privilegien
Die saudische Desertrockband Seera besteht aus vier selbstbewussten Musikerinnen. Sind sie Vorbotinnen einer zarten Kulturrenaissance im Königreich?
Die kleine Konzerthalle KMH im Hamburger Kulturzentrum Kampnagel ist nur spärlich gefüllt. Nicht ungewöhnlich, denn es spielt ein Geheimtipp, die Band ist hierzulande noch nicht bekannt. Das sollte sich ändern, Seera, die vierköpfige Rockband aus Saudi-Arabien, besteht ausschließlich aus Musikerinnen.
Ihr Sound ist Desertrock mit psychedelischer Schlagseite, der an die Glanzzeit von Acidrock und Bands wie Jefferson Airplane erinnert. Wobei die Songs von Seera moderner, frischer und auch komplexer klingen.
Ihr Debütalbum „Al Mojallad Al Awal“ (Volume Eins) ist bereits 2024 erschienen, damit kam die Band nun für eine Handvoll Gigs nach Europa. Seera, auf Deutsch heißt der Bandname Geschichte oder Reise, sind live eine Bank. Gleich mit dem Auftaktsong „Share3 Al Buhturi“ entfaltet das Quartett einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.
Benannt ist der Song nach einer Straße in Seeras Heimatstadt Riad, sie trägt den Namen eines arabischen Dichters. Prägnant klingt besonders die Mischung: Arabische Einflüsse treffen auf klassische rockistische Inspirationen wie etwa der Orgelsound, der dezent an Ray Manzarek von The Doors gemahnt. Seera haben Anklänge an Metal und gleichzeitig an klassische Musik.
Auftritte mit bestickter Maske
Ihre Songtexte erzählen in poetisch-abstrakten Bildern von Depressionen und Krisen. „Es geht aber nicht darum, Trauer und Düsternis heraufzubeschwören. Am Ende soll man sich wieder aufrappeln können“, erklärt Drummerin Thing, die ihr Gesicht für offizielle Auftritte mit einer bunt bestickten traditionellen Maske bedeckt. Ihre Locken liegen frei und auch sonst ist sie nicht bedeckt gekleidet. Die Maske wird auch in Abwandlungen insbesondere in der Gegend um den Persischen Golf getragen. Thing gefällt es, mysteriös zu wirken.
Derweil vibriert der Saal in Hamburg vor Energie. Die Stimme von Sängerin und Komponistin Nora klingt dabei meist wie eine Nachtigall. Doch sie ist wandlungsfähig, man merkt das besonders, wenn es in den Songs metalmäßig zugeht. Mit ihren dunklen, lockigen Haaren headbangen die Frauen entsprechend zu den melodischen Bass- und Gitarrenriffs. „Wir machen keine Habibi-Songs“, erklärt Thing und grinst. Es gibt Wichtigeres als Liebe“, findet sie.
Diesem augenzwinkernden Seitenhieb auf romantische Klischees von arabischem Mainstream-Pop wohnt im patriarchalen Saudi-Arabien besondere Sprengkraft inne. Und das verbindet Seera auch mit einer Welt, in der Frauen einer männerzentrierten, romantisierten Vorstellung von Glück mehr und mehr den Rücken kehren.
Ungewohnte Perspektiven auf Feminismus
Dabei eröffnen Seera in ihren Songs teils ungewohnte Perspektiven auf feministische Diskurse: „Feministin zu sein, das wurde uns in die Wiege gelegt“, behauptet Gitarristin Haya. „Als Frau ergibt sich das von selbst. Die Welt wird vielleicht konservativer, aber das entspricht nicht unserer Realität. Bei uns wird alles liberaler“, erzählt sie. „Deshalb habe ich das Gefühl, dass die Debatte über Feminismus für uns gar nicht so relevant ist.“
Diese Haltung kann man auch ohne westliche Brille und orientalistische Projektionen auf Frauen aus dem arabisch geprägten Raum kritisieren. Aus der Perspektive der saudischen Frauen ergibt das jedoch durchaus Sinn, denn Seera sind Teil einer jungen, privilegierten Generation, die von der Öffnung des Landes profitiert.
Seera: „Sarab“ (Self Esteem)
Dass sie als Frauenband in Saudi-Arabien überhaupt auftreten dürfen, liegt an Saudi Vision 2030 – einem im Jahr 2016 vom saudischen Kronprinzen und Premierminister Mohammed bin Salman eingeführten Programm, das die kulturelle Öffnung und wirtschaftliche Diversifizierung des Königreichs vorsieht.
Ziel ist es, die Abhängigkeit vom ökonomisch schwankenden Ölmarkt zu verringern und wirtschaftlichen Herausforderungen sowie regionalen Konkurrenten wie Katar zu begegnen. Im eigenen Land muss auch die junge Generation ruhig gestellt werden, damit sie nicht aufbegehrt. Offensichtlich wollen die Machthaber Bilder wie die aus Iran vermeiden.
Gleichstellung in weiter Ferne
Trotz zarter Fortschritte wie des nun verbrieften Rechts, dass saudische Frauen Auto fahren dürfen, bleibt die Gleichstellung in weiter Ferne. Das patriarchale Vormundschaftssystem besteht weiter. Es gibt sogar Berichte über Folterung von saudischen Frauen, die sich nicht systemkonform verhalten.
Die in der US-Hauptstadt Washington ansässige NGO Freedom House stuft die saudische Monarchie regelmäßig als eines der autoritärsten Regime der Welt ein. 2024 wurden laut Amnesty International 345 Menschen im Land hingerichtet – fast doppelt so viele wie 2023, meist wegen Drogendelikten, aber auch aufgrund oppositioneller Aktivitäten.
Diese unerträglichen Verhältnisse stehen in krassem Kontrast zur Vision 2030, deren Reförmchen hauptsächlich der wohlhabenden Klasse zugutekommen, und Expats aus dem Westen. Seit einigen Jahren gibt es clubähnliche Lokale und Musikfestivals im Land.
Wie kann man mit diesen widersprüchlichen Realitäten umgehen, und muss man in einem Text über eine saudische Frauenband die Menschenrechtssituation erwähnen? Absolut ja, denn das sogenannte Kulturwashing, also der Versuch, durch kulturelle Aktivitäten das Image des Landes aufzupolieren, ohne soziale oder politische Probleme zu ändern, verfängt.
Millionen für Imagekampagnen
So werden regelmäßig mit Petrodollars westliche Kulturschaffende nach Saudi-Arabien eingeflogen und die Clips ihrer Auftritte in den sozialen Medien hochgeladen. Das Königreich gibt Millionen für Imagekampagnen aus, die den Tourismus ankurbeln sollen.
Zuletzt stand US-Komikerin Jessica Kirson in der Kritik, da sie im September wie Kevin Hart und weitere Künstler:Innen völlig selbstverständlich am Comedy-Festival in Riad teilgenommen hat. Kirson ist lesbisch, homosexuelle Handlungen stehen in Saudi-Arabien unter Strafe! US-Rapperin Nicki Minaj hatte ihre Auftritte in Saudi-Arabien dagegen mit Bezug auf die Einschränkung der Rechte der LGBTIQ-Community und Frauen abgesagt.
Die Vision 2030 hat also nur für manche Freiräume geschaffen. Der großen Mehrheit der Saudis, aber vor allem auch den saudischen Frauen steht jede Verbesserung der Lebenssituation zu. Man kann Seera also nicht vorwerfen, sich vom Staat instrumentalisieren zu lassen. Denn als Indieband seien sie unabhängig, sagt zumindest die Managerin der Band, Nadia Khan. Khan arbeitet von London aus. Sie habe die Band 2023 während einer Reise nach Riad bei einem ihrer Auftritte entdeckt. Seitdem veröffentlicht sie die Musik von Seera mithilfe ihrer Publishing-Firma CTRL Music.
Gleichberechtigung in der Musikbranche
Khan setzt sich seit Jahren für Gleichberechtigung in der Musikbranche ein. Vielleicht kann man es als glückliche Fügung bezeichnen, dass sie auf die Band gestoßen ist. „Wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Eine Gelegenheit, die wir am Schopfe gepackt haben“, erzählt Sängerin Nora. „Die Musik war immer da, endlich kommt sie richtig zur Geltung“, stellt Haya fest.
Seera fühlen sich als Teil einer vielfältigen Musikszene, Rockbands wie Sound of Ruby und Garwasha mischen Saudi-Arabien auf. Jugendlichen soll damit der Soundtrack für ihr Coming-of-Age liefert werden. Aber ist das schon eine Kulturrevolution?
Seera selbst sprechen lieber von „Renaissance“. Nora erzählt, dass sie bei Auftritten in ihrer Heimat auch Schockmomente genießen. Wenn sie im Publikum beispielsweise einen Vater mit Kind auf den Schultern mitviben sehen, freuen sie sich. Ohne die lokale Unterstützung könnten sie auch gar nicht auf Tour gehen.
Nun träumt die Band davon, als Vorgruppe der US-Metalband System of a Down auftreten zu dürfen, von denen sie Fans sind. Das wäre doch was, wenn System of a Down Schützenhilfe leisteten, um Seera einem breiteren Publikum vorzustellen. Ob die Freiheit, die Seera in Saudi-Arabien genießt, bald auch für weniger Privilegierte im Land gelten wird, bleibt im Land, in dem Geld und Patriarchat regieren, jedoch unklar.
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