Samuel Huntington gestorben: Wir gegen sie
Der konservative Denker Samuel Huntington lieferte mit seinem Theorem vom "Kampf der Kulturen" die einflussreichste Weltdeutung der Post-89er-Ära. Nun starb er mit 81 Jahren.
Es ist schon eine fast gespenstische Koinzidenz, dass der konservative US-Politologe Samuel Huntington ausgerechnet in den letzten Tagen dieses Jahres 2008 starb, am 24. Dezember. Dieses Jahr markiert nichts weniger als das Ende der Welt, wie wir sie bisher kannten. Die welthistorische Phase, die mit dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges begonnen hatte, ging zu Ende. Und Huntington war einer derer, die dieser Ära ihre Stichworte gaben.
Es waren im Grunde zwei Theorien, die in den vergangenen zwanzig Jahren Furore machten: Francis Fukuyamas Postulat vom "Ende der Geschichte" und Huntingtons These vom "Kampf der Kulturen". Diese Thesen widersprachen sich ein wenig, aber sie ergänzten sich auch. Sie lagen quer zueinander, hatten aber auch ein inneres dialogisches Verhältnis. Der liberalkonservative Politologe Fukuyama hatte bereits 1989 in seinem legendären Essay "Ende der Geschichte?" behauptet, dass Geschichte in einem emphatischen Sinn zu Ende gehe, weil das westliche Modell mit liberaler Demokratie und freier Marktwirtschaft gesiegt habe. Es werde vielleicht noch historische Ereignisse geben, aber der Kampf der Ideen, der "die Geschichte" immer voranbrachte, habe sich erledigt. Huntington widersprach dem nicht direkt, meinte aber, dass mit dem Ende der Auseinandersetzung der Ideologien wieder die Konfrontation der großen Weltkulturen, der Großzivilisationen, auf der Tagesordnung stünde.
Huntington, eher ein traditioneller Konservativer als ein "Neokonservativer", breitete seine These erstmals 1993 in einem Essay für das US-Magazin Foreign Affairs aus. Es war ein seltsam schillernder Text: hellsichtige Prognose, kühle Bestandsaufnahme auf der einen Seite; eine Beschwörung auf der anderen Seite. Die Welt sortiere sich nicht mehr entlang von Großideen, sondern entlang traditioneller kultureller Gräben, war Huntington überzeugt: hier der Westen mit seiner judäo-christlichen Tradition plus Aufklärung plus Marktwirtschaft, da das buddhistisch-konfuzianische Asien, dort die muslimische Welt.
Huntington, der konservative Denker, war im Innersten selbst davon überzeugt - wie die Akteure des von ihm beschriebenen Kulturkampfes -, dass die großen Weltkulturen, getrennt entlang religiös-zivilisatorischer Grenzen, tatsächlich nicht zusammenpassen. Er analysierte den identitären Diskurs - und war selbst schon Teil von ihm. Dies machte seinen Text zu einer Provokation, weil er nicht nur eine Konfliktkonstellation beschrieb, sondern immer auch einer Seite die Argumente gab. Mit einem Wort: Die These vom Kampf der Kulturen machte etwas sichtbar - aber sie war selbst schon Teil dieses Kampfes. Sie ist, wie der deutsche Essayist Nils Minkmar einmal schrieb, "eine intellektuelle Kippfigur: Wenn man sie einmal im Sinn hat, deutet man alle Ereignisse nach diesem Muster."
Dann sind islamische Terroristen, chinesische Investoren, palästinensische Widerständler, jugoslawische Sezessionisten und Neuköllner Jungmachos am Schulhof allesamt Symptome dafür, dass "die Kulturen" in einer ewigen Spannung zueinander stehen.
Der Beschreiber ist dann aber auch ein Mittuer. Ganz falsch muss das die Beschreibung freilich nicht machen.
"Die Angehörigen der verschiedenen Zivilisationen haben unterschiedliche Ansichten über das Verhältnis von Gott und den Menschen, den Individuen und den Gemeinschaften, den Bürgern und dem Staat, Eltern und Kindern, Männern und Frauen, und ebenso sehr verschiedene Auffassungen über das richtige Verhältnis von Rechten und Pflichten, Freiheit und Autorität, Gleichheit und Hierarchien", schrieb Samuel Huntington. Diese seien über Jahrhunderte gewachsen. Gleichzeitig werde "die Welt kleiner". Menschen unterschiedlicher Kulturen haben mehr miteinander zu tun, die Interaktion zwischen ihnen wird intensiver. Dies nivelliere die kulturellen Differenzen aber nicht, sondern "verstärkt das Bewusstsein der kulturellen Differenzen". Hinzu komme noch, dass die wirtschaftliche Modernisierung und Globalisierung einen Bedeutungsschwund der Nationalstaaten nach sich ziehe, so dass die "geschwächten Nationen als Quelle der Identität" ausfallen, fügte er hinzu.
Weil der Westen am Höhepunkt seiner Macht steht, zieht er das Ressentiment der nichtwestlichen Zivilisationen nach sich. Und weil die klassischen Ideologien und politischen Rhetoriken delegitimiert seien, mit Hilfe derer die Underdogs der Welt in den Jahrzehnten davor revoltierten, griffen sie zunehmend zum religiösen Vokabular, wandten sie sich vermeintlichen kulturellen Wurzeln zu. "Sozialismus", "Nationalismus", "Postkolonialismus", all das waren einst Strategien der Unterprivilegierten, gegen die westliche Dominanz aufzubegehren - doch alle diese Strategien haben an Überzeugungskraft verloren. Der "Sozialismus" ist zusammengebrochen, der "Nationalismus" in der Dritten Welt hat an Anziehungskraft eingebüßt, weil die säkularen Führer sich als korrupt und unfähig erwiesen, und der "Postkolonialismus" endete in Katerstimmung, weil er zwar unabhängige Staaten etablierte, aber an Unterentwicklung nicht viel änderte. Die Religion ist da die einzig verbliebene Ressource zur Gemeinschaftsbildung. Dies war eine frühe und gewiss hellsichtige Analyse jener Triebkräfte, die etwa den Aufstieg des islamischen Fundamentalismus begünstigten.
Aber Analysen sind nie "nur" Analysen und sie führen auch ein Eigenleben, besonders dann, wenn sie zu einflussreichen Weltdeutungen werden. Und so wie Fukuyama die philosophische Grundierung des neoliberalen Triumphalismus lieferte, so verkam Huntingtons Modell zur Bush-Doktrin, zum aggressiven "Wir gegen sie". Motto: Wenn es den "Kampf der Kulturen" gibt, dann muss man ihn eben führen. Ein bisschen ist Huntingtons Theorie also auch eine Prophezeiung gewesen, die sich selbst erfüllt: Wenn man den Kampf der Kulturen nur lange genug beschwört, dann kriegt man ihn am Ende auch.
Gänzlich unschuldig ist Huntington zu dieser zweifelhaften Ehre nicht gekommen. Er hat die kulturellen Identitäten als etwas Festes beschrieben. Individuen waren für ihn primär von kulturellem Herkommen und von Religion geprägt. Dass es neben der Option des Konflikts noch die der Kooperation, der Selbstreflexion und des "Sehens mit den Augen der anderen" geben könnte, das hat er, vorsichtig formuliert, nicht gerade überbetont. Intellektuell war Huntington klug genug, die Ambivalenzen seines Modells zu berücksichtigen - etwa, dass die kulturelle Dominanz des Westens selbst die Ressentiments der "anderen Kulturen" produziert, deren Rückgriff auf das Archaische also eine moderne Gegenreaktion ist. Letztendlich war seine Theorie wohl auch simple Abwehr eines weißen, konservativen amerikanischen Patriziers gegen das Fremde. Nur wenige Jahre nach Erscheinen der Kulturkampf-Theorie legte er in seinem Buch "Who we are" nach, in dem er die angstlastige These aufstellte, die andauernde Immigration aus Lateinamerika zerstöre die kulturelle Identität der Vereinigten Staaten.
Letztendlich war Huntington vom paranoiden Stil des heutigen Konservativismus angesteckt, auch wenn das wegen seines bedächtig-professoralen Tones nicht immer auffiel. Schon in den Siebzigerjahren stieg der Harvard-Professor zu einem der einflussreichsten konservativen Denker auf, weil er angesichts der Jugendrevolten und des "Verfalls der Autorität" die "Unregierbarkeit" der westlichen Demokratien vorhersagte. Modernisierung und Wertewandel waren für ihn weniger Fortschritt als Verfallsgeschichte. Deswegen konnte er auch nur schwer verbergen, dass er im "Kampf der Kulturen" eine Chance sah - etwa, dass sich auch der Westen wieder auf seine "christlichen Wurzeln" besinnen könnte.
Huntingtons Theorem vom "Kampf der Kulturen" war gemeinsam mit dem Fukuyama-Postulat vom "Ende der Geschichte" die einflussreichste Weltdeutung der Post-89er-Ära. Das Jahr 2008 markiert ihren gemeinsamen Untergang. Die triumphalistische Marktideologie ging mit der Kernschmelze des globalen Finanzsystems unter. Und mit dem Sieg von Barack Obama dürfte auch die Ära der aggressiven Abgrenzung des Westens enden. Die Amerikaner wählten einen Schwarzen, den Sohn eines Kenianers, einen Mann, der zeitweise in Indonesien aufgewachsen ist. Der einen komischen Vornamen trägt - Barack. Dessen Nachname - Obama - vom Namen des größten Feindes der USA kaum zu unterscheiden ist. Und der auch im Zweitnamen genauso heißt wie der zweite, schon getötete Erzfeind, Saddam Hussein. Was der Mann trägt, ist kein Name, schrieb unlängst das Magazin New Yorker, das ist eine Katastrophe.
Dennoch wurde Barack Obama gewählt. Der Mann ist heute schon lebendes Denkmal. Für die "Osmose der Kulturen".
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