Sängerin Netta über Empowerment: „Ich sollte die Heldin so vieler sein“
Sängerin Netta hat im Mai den Eurovision Song Contest gewonnen. Sie versteht sich nicht als politischer Mensch – eine Botschaft hat sie dennoch.
taz: Guten Morgen, Netta.
Netta Barzilai: Guten Morgen nach Deutschland. Entschuldigung, ich bin gerade am Frühstücken.
Was gibt’s?
Omelette, ein bisschen Gemüse, Obst. Es ist typisch israelisch: Alles ist sehr frisch.
Können Sie sich noch an das Frühstück in Lissabon erinnern, als Sie dort für den Eurovision Song Contest zu Gast waren?
Gut, dass Sie auf Lissabon zu sprechen kommen. Ich erinnere so gut wie nichts mehr von der Stadt. Das Frühstück? Keine Ahnung.
Gehungert haben Sie aber nicht?
Natürlich nicht. Ich musste ja fit bleiben – vermutlich habe ich viele Gurken zu mir genommen. Gurken haben keine Säure und sind somit magenfreundlich.
Und die Stadt selbst?
Uff. Es ist nicht mal ein halbes Jahr her, aber mir fehlen die Bilder von Lissabon. Man hat mir gesagt, dass es schön und lebendig ist.
Geboren am 22. Januar 1993 in Hod Hascharon. Als Kind verbrachte sie mit ihrer Familie vier Jahre in Nigeria. Nach dem Militärdienst studierte sie an der Rimon School of Music in Tel Aviv das Fach „Elektronische Musik“. Mit „Toy“ konnte sie die Publikumsentscheidung beim 63. Eurovision Song Contest deutlich für sich entscheiden. Damit errang sie den vierten ESC-Sieg für Israel. Sie lebt in Tel Aviv.
Die Konzerte
Am 15. November tritt sie im Lido in Berlin auf, am 18. November im Club Bahnhof Ehrenfeld in Köln.
Welche Bilder sind in Ihnen aus dieser Zeit geblieben?
Kaum welche. Das wundert mich nicht. Wenn man zu einem Eurovision Song Contest fährt, ist das für einen sehr stressig. So sagte man mir vorher. Das konnte ich kaum glauben, aber, okay, die Zeit in Israel vor dem ESC war ja auch nicht gerade ruhig – all die Vorbereitungen und so. Aber in Lissabon war alles noch eine Nummer schärfer.
Inwiefern?
Wer zum ESC fährt, wird kämpfen wollen, konkurrieren mit anderen, so ist das. Alles ist der Frage untergeordnet: Wie schaffe ich es, so gut wie möglich auf der Bühne zu sein? Alle Augen sind auf einen gerichtet, man ist fast nie allein – alle beobachten einen: In welcher Form ist sie? Was wird sie sagen? Wie singt sie?
Keine Zeit, mal sich zu entspannen?
(Lacht wieder herzhaft) It’s Eurovision – was denken Sie denn? Das ist keine Erholungsoase, das ist eine Zeit der Entscheidung – und auf die ist alles, buchstäblich alles ausgerichtet. Klingt das nach Entspannung? Eben!
Aber es war trotzdem eine gute Zeit?
Es war eine der magischsten Zeiten meines Lebens. So unerwartet für mich, so unabsehbar, so grandios.
Wissen Sie noch, wie es Ihnen vor einem Jahr ging, ehe der Trubel los ging?
Eher vage. Nur, dass ich sehr schnell merkte, dass ich als Person meine inneren Barrieren überwinden muss, dass ich an mich glauben kann. Jeden Morgen in Lissabon sagte ich mir: Ich werde gewinnen. Ich werde mein Bestes geben, nichts wird mich fürchten lassen – jede Angst würde nur eine Lüge sein. So habe ich es mir jeden Morgen gesagt. Ich sagte mir: Das ist deine Zeit, ich bin hier, um mit Leuten Spaß zu haben – und Menschen glücklich zu machen. Die Tage von Lissabon waren für mich eine Entdeckungsfahrt – und ich habe etwas entdeckt: Wieviel Kraft in mir ist – und dass ich sie habe und nutzen kann. Und wie glücklich ich sein kann, wenn ich hart arbeite.
Und Lissabon …
… war kein Fun als Lissabon, sondern Fun für mich. Als Entdeckung meiner selbst als menschliches Wesen, das Kraft hat und die Ziele erreichen kann, die ich mir stecke. Als Frau, als Anführerin, als Musikerin, als Performerin.
Sie waren in Israel eine nicht bekannte Musikerin, ehe es mit der ESC-Auswahlshow losging.
Man kommt als anonyme Kandidatin und hofft, nicht gleich rauszufliegen. Ich hatte kein Geld und nichts zu verlieren. Und ich hatte meine Stimme und meinen Looper, ein mobiles Vokalschleifengerät mit Tönen meiner Stimme, nicht mehr. Alles, was auf der Bühne sein würde, wusste ich, käme von mir. Und ich wusste, dass das niemand sonst macht – es war einfach Avantgarde, eine Kunst in der Nische. Niemand kannte diese Art von Musik wirklich. Aber ich ahnte, dass das Publikum, das über die Kandidaten abstimmen würde, auf meiner Seite sein könnte. Bullshit bemerkt das Publikum schnell. Acts, bei denen die Kandidaten echt tun, aber nicht echt sind. So kam ich Runde für Runde weiter. Okay, ich bekam Liebesbriefe, aber auch viel Hass – aber das israelische Publikum spürte offenbar, dass Hass keine Chance gegen mich haben soll.
Und als klar war, dass Sie in die Fußstapfen einer Dana International treten könnten?
Da war es erst recht nicht einfach. Ich sollte die Heldin so vieler sein – das musste ich erstmal verkraften. Ich ging durch viele Täler – immer noch dachte, diese Liebe zu mir könnte nicht wahr sein, alles würde mit einer Enttäuschung enden. Endlich an mich selbst zu glauben war das Schwierigste für mich überhaupt: „I can do it“ – das ist ein Satz, den man sich selbst sehr hart erarbeiten muss.
„Diversity“ ist der Kern Ihrer politischen und kulturellen Botschaft?
Kulturell, vielleicht, aber ich kein politischer Mensch, über Politisches kann ich nichts sagen. Ich mag Menschen – das ist mir wichtig, von Politik verstehe ich nicht genug. Meine Botschaft lautet: „Wir sind schön – in all unseren Formen, in allen Farben und Größen.“ Wenn wir akzeptieren, dass wir alle schön sind, dann sind wir wirklich schön.
Ist ihr Eurovisionslied „Toy“ auch als Kommentar zur #MeToo-Bewegung zu verstehen?
Ich habe in „Toy“ mehr gesehen. Okay, dass es die #MeToo-Bewegung unterstützt, war prima. Diese Bewegung hat unsere Stimmen als Frauen ja hörbar gemacht. Aber mein Lied meint mehr: „Toy“ ist ein Lied gegen jede Art von Mobbing, Tyrannei, Gewalt und Einschüchterung.
Durch Regierungen, in Schulen, an Universitäten, in Jobs – und im Alltag überhaupt. Leute sind in Jobs, die sie quälen, in denen sie ihre Zeit verschwenden – auch gegen diese Zustände ist mein Lied gerichtet.
Ist „Toy“ ein autobiografisches Lied?
Auch. Wie oft ist mir von allen möglichen Leuten gesagt oder nahegelegt worden, abzunehmen. Sie wollten mich in ihre Normen pressen – das durfte ich nicht hinnehmen. Weil es ja um mein Leben, um meinen Körper geht. Ich bin oft gemobbt worden, als dicke Person. Leute haben hinter meinem Rücken über mich gelacht, sie haben mir signalisiert, dass ich so, wie ich bin, nicht okay bin. Das war sehr schmerzlich. Immer noch, das ist nicht einfach vergessen. „Toy“ ist für mich ein Appell, dass diese Menschen nicht im Recht sein dürfen.
Haben Sie eine Vorstellung davon, weshalb Sie bei genormten Menschen Aggressionen wecken?
Sie fürchten, in mir das Fremde zu sehen, etwas, das sie nicht kennen und kennenlernen wollen. Sondern abwerten. Sie fürchteten auch das Hühnergegacker, das in „Toy“ zu hören ist – das störte sie, das klang ihnen nicht schön genug. Sie fürchteten das Fremde in diesem Gegacker, weil sie glauben, dass man ihnen ihre Plätze streitig macht. Sie haben Schiss davor, dass du ihre Spielregeln nicht mehr anerkennst.
Hegen Sie nicht manchmal Gefühle, an den Bösen Rache nehmen zu wollen?
Nein, Rachegefühle habe ich nicht. Ich danke den Leuten, die mich mobbten, wirklich. Ihr hässliches Benehmen gegen mich machte mich am Ende stärker. Ich vergebe ihnen. Allen, die mich verspotteten. Meine künstlerische Arbeit ist nicht einer Rache gegen andere gewidmet, sondern auch mir, um gegen Mobbing mich wehren zu können – stark zu werden, um vom Spott nicht mehr getroffen zu sein. Ich war nicht auf der Eurovisionsbühne, um ihnen allen in die Hintern zu treten, sondern auch ihnen meine Liebe anzubieten.
Haben Sie nach dem Sieg bei der Eurovision mehr Liebesbriefe als zuvor erhalten?
Es gibt jetzt viel mehr Fans, die mir ihre Liebe zeigen. Und Liebesbriefe, ja, die gab es auch. Ich habe natürlich auch ein Privatleben, darüber möchte ich nichts sagen in der Öffentlichkeit. Aber ich weiß alle Briefe, Mails und Chats sehr zu schätzen. Warum auch nicht? Ich bin schön, attraktiv, sexy … Ich habe Selbstvertrauen, das ist ein rares Gut heutzutage, so selten. Wer glaubt schon im Herzen an sich? So viele sind so unsicher. Dabei ist die Lösung nah: So wie du bist, ist es richtig – glaub daran. Es ist ein harter Weg, um sich annehmen zu können. In den Spiegel zu gucken, sich anzusehen und zu sagen: Wow – ich bin das schönste Wesen der Welt!
Mit Blick auf das kommende Jahr: Sind Sie glücklich, das Eurovisionsfestival in Tel Aviv zu haben?
Ja, das wird die größte Show, die die Welt je gesehen hat. Alles wird voller Eurovision sein. Die Leute in Israel freuen sich auch schon wahnsinnig drauf – diese Party ist für alle, an den Stränden, in den Clubs, auf den Straßen, überall. Die Menschen wissen ja gar nicht, wie toll Israel ist. Sie werden es im Mai herausfinden können.
War es eine gute Entscheidung, dass der ESC nicht in Jerusalem ist wie 1979 und 1999?
Oh, Jerusalem ist auch magisch – man kann es besuchen, es liegt nur eine halbe Stunde von Tel Aviv entfernt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren