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STRATEGIEN Es ist ein Kampf um Begriffe und Erzählungen, global ausgefochten mit Kalaschnikows, YouTube-Videos und dem Koran. Doch was setzen die Gelehrten der islamischen Welt dem IS entgegen? Eine Suche in Saudi-Arabien, Ägypten, der Türkei und EuropaGegen den Terror

Aus Nizza, Dschidda, Kairo und Berlin Annika Joeres, Jannis Hagmann, Khalid El Kaoutit, Yasemin Ergin, Alke Wierth und Viktoria MoraschundAnnika Joeres, Jannis Hagmann, Khalid El Kaoutit, Yasemin Ergin, Alke Wierth und Viktoria Morasch

Es war im Juni 2014, als ein islamischer Gelehrter, ein promovierter Theologe immerhin, das Kalifat ausrief. Ein Mann Mitte 40, der drittälteste von vier Söhnen einer Bauernfamilie, sagte, er sei der Herrscher über alle Muslime. Man vermutet, dass er aus dem irakischen Samarra stammt, seine Herkunft soll auf den Propheten Mohammed zurückgehen. Kalif Ibrahim, besser bekannt unter dem Namen Abu Bakr al-Baghdadi: Anführer des selbsternannten „Islamischen Staats“ und verantwortlich für unzählige Tote und Gefolterte.

Herrscher über alle Muslime? Oder einer der meistgesuchten Terroristen der Welt? Nachdem sich al-Baghdadi die Zähne und den Gaumen mit einem Miswak-Holz gereinigt und sich in seiner viertelstündigen Freitagspredigt in Mossul zum Kalifen ernannt hatte, dauerte es nicht lange, bis muslimische Gelehrte reagierten. Moderate und Ultraorthodoxe waren sich einig: Al-Baghdadi ist ein Blender, ein Sünder, einer, der die Religion pervertiert. Sie erkennen ihn nicht als Herrscher an, aber sie müssen zusehen, wie die Ideologie des IS junge Menschen auf der ganzen Welt anzieht. So sehr, dass sie bereit sind zu töten, andere und sich selbst. In Mossul, in Beirut, in Paris. Manche sprechen davon, der Dschihad sei zu einer Jugendbewegung geworden. Früher nahm man LSD, heute guckt man Enthauptungsvideos. Und macht sich am Ende auf nach Syrien.

Nizza, Frankreich:Die Vorstadt-Muslimin

Auch Anouk Beslim hat junge Menschen nach Syrien ziehen sehen. „Das sind alles verlorene Seelen, sie waren nicht einmal besonders gläubig“, sagt sie. 21 Jahre alt, Krankenschwester in Ausbildung, vor fünf Jahren ist Beslim zum Islam übergetreten. Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem sie sich nicht für die Gräueltaten des IS irgendwie rechtfertigen muss. Ihr von einem schwarzen Schleier eingerahmtes Gesicht wirkt angespannt, ihre Sneaker wippen unablässig auf und ab.

Anouk Beslim wohnt in Ariane, einem Vorort von Nizza. Es ist einer dieser Orte, die in den 1960er Jahren für die meist nordafrikanischen Zuwanderer aus dem Boden gestampft wurden. Während die Bewohner im Zentrum weiß und wohlhabend sind, leben hier Menschen mit maghrebinischen Wurzeln, auf den Caféterrassen sitzen ältere Männer, die Häuser sind dreimal so hoch wie an der Küste. Die Menschen hier misstrauen der Presse, Anouk Beslim ist eine der wenigen, die überhaupt reden will – nur ihr richtiger Name soll nicht in der Zeitung stehen.

Seit den Attentaten von Paris war Beslim nicht mal mehr in der Innenstadt von Nizza, ihrem Geburtsort, sie war auch nicht mit ihren Freundinnen in ihrem Stammcafé. Sie hat eigentlich überhaupt nichts gemacht, außer die Nachrichten über die Jagd nach den Terroristen zu verfolgen. „Ich habe Angst vor den Pöbeleien. Die Terroristen haben das Leben von uns Muslimen in Frankreich bestimmt stärker verändert als das aller anderen Bürger.“

Nach den Anschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo im Januar wurde Beslim mehrfach angegriffen. „Ein Jugendlicher hat mir mitten auf der Straße den Schleier vom Kopf gerissen“, sagt sie. Ständig müsse sie sich erklären. Der mögliche konservative Präsidentschaftskandidat Alain Juppé forderte in dieser Woche, französische Muslime müssten sich öffentlich von jedem Fanatismus und jeder Barbarei distanzieren.

Der französische Rat der Muslime arbeitet inzwischen an einer Charta und an einem Label, das er den Imamen im Land verleihen will, um radikale Prediger auszugrenzen. Die Unschuldsvermutung ist außer Kraft gesetzt, Muslime müssen nun beweisen, dass sie mit dem Terror nichts zu tun haben. Seit Charlie Hebdo haben rechte Bürger hunderte von islamfeindlichen Aktionen verübt, sie besprühten Moscheen, zerschlugen Fenster von Halal-Metzgereien oder legten wie am vergangenen Wochenende Schinken und Speck, für Muslime verbotenes Schweinefleisch, vor eine Moschee im westfranzösischen Pontarlier.

Wenn, wie in dieser Woche, über den IS und den Islam gesprochen wird, scheint es diese beiden Positionen zu geben: Erstens, der IS hat nichts mit dem Islam zu tun. Zweitens, der IS ist die Folge einer gewaltverherrlichenden Religion, die Radikalisierung ist im Koran angelegt. Wer so argumentiert, zieht eine direkte ­Linie vom Islam zum IS. Ähnlich wie die, die auf Facebook und Twitter schreiben, dass man lieber nicht für Paris beten solle: Gerade jetzt habe man genug von Religionen.

Der Koran ist ein abgeschlossenes Buch, der Islam nicht. Er verändert sich zu dem, was Menschen aus ihm machen

Am Anfang steht also die Frage: Ist der IS ein innerislamisches Problem? Ohne den Islam gäbe es keinen „Islamischen Staat“, zugleich, das sagen islamische Gelehrte immer wieder, ist der IS zutiefst unislamisch. Ein Paradox.

Es ist ein Kampf um Begriffe, Erzählungen und Ideologien. Er wird global ausgefochten, mit Kalaschnikows, YouTube-Videos und dem Koran. Was können die Gelehrten der islamischen Welt dem „Islamischen Staat“ entgegensetzen? Wie wird in Saudi-Arabien, Ägypten, der Türkei und Europa über ihn gesprochen?

Dschidda, Saudi-Ara­bien: Die Reformerin

Dschidda ist heute eine Millionenmetropole, früher war hier nur ein kleines Fischerdorf mit Pilgerhafen. Seit Jahrhunderten kommen Muslime auf ihrem Weg nach Mekka und Medina in Dschidda vorbei. Mekka, das religiöse Zentrum des Islam, ist keine hundert Kilometer weiter östlich.

Samar Fatany hat als Treffpunkt ein Restaurant vorgeschlagen. Von der Terrasse aus könnte man auf das Rote Meer blicken – wären da nicht die vielen Hoteltürme, die die Sicht nehmen. Männer schlürfen Pepsi und American Coffee. Nur wenige tragen Ghutra und Thobe, das traditionelle Gewand. Familien, Frauen unter sich und – auch wenn das offiziell nicht vorgesehen ist – gemischte Gesellschaften nehmen im ersten Stock Platz, in der „Familienabteilung“. Die arabische Kalligrafie an der Wand erinnert daran, dass wir nicht in einem Coffeeshop in New York, Berlin oder Schanghai sind.

Samar Fatany ist Publizistin, eine der lautesten Kritikerinnen im Königreich. Sie bestellt einen türkischen Kaffee, „medium“, mit Zucker, aber nicht zu süß. Mit ihrem locker sitzenden Kopftuch und die schwarz-grau gemusterte Abaya hebt sie sich von den konservativer gekleideten Frauen im Restaurant ab. „Früher hatten wir al-Qaida und 9/11, jetzt heißt unser Pro­blem Daesh“, sagt sie, aufgebracht zwar, aber doch mit der gefassten Stimme einer Intellektuellen. Fatany sagt bewusst ­"Daesh“. Es ist die arabische Abkürzung für IS, die Terrormitglieder finden diese Bezeichnung despektierlich und wollen so nicht genannt werden. Mit den Luftangriffen, mit denen Saudis und Amerikaner die Dschihadisten bekämpfen, werde man das Problem nicht lösen. „Der Kampf gegen Daesh ist ein Krieg der Ideologien und muss auf ideologischer Ebene ausgetragen werden“, sagt Fatany, „aber die Ulema haben versagt.“

Die Ulema, Arabisch für islamische Gelehrte, predigen seit Jahren Mäßigung und Toleranz. Wasatiyya, dieser Begriff fällt immer wieder im religiösen Diskurs. Er beschreibt den „Weg der Mitte“. „Und so haben wir euch (Muslime) zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht“, heißt es in der zweiten Sure des Korans, die wieder und wieder gegen die Verheißungen der Extremisten vorgebracht wird.

„Was auch immer die islamischen Gelehrten bislang gemacht haben, es hat das Pro­blem nicht gelöst“, sagt Fatany. Die Männer der Religion seien zu schwach, ihr Narrativ nicht attraktiv genug, um es mit den Dschihadisten aufnehmen zu können. Das Problem sei nicht etwa der Text des Korans. Das Problem sei, wie die Gelehrten mit ihm umgingen.

Die traditionellen Gelehrten interpretierten den Koran nicht eigenständig, erklärt Fatany. Sie berufen sich auf Berichte über das Leben Mohammeds und seiner Gefährten, die Überliefererkette muss bis zu den Tagen des Propheten zurückführen. Wie verhielt sich Mohammed? Das ist die Leitfrage der Hadith-Wissenschaft, die das, was der Koran offen lässt, klären soll. Denn der Koran gibt in Alltags- und Rechtsfragen nur wenig Auskunft.

„Der Islam lässt sich nur durch Argumente verbreiten, nicht durch Zwang, und mit Waffengewalt schon gar nicht“

Darf ich als Muslim Alkohol trinken? Wenn ja, wann und wie viel? Manche trinken gar nicht. Andere nur nicht vor dem Gebet. Wieder andere nur zum Fastenbrechen. Für alle Lösungen lassen sich entsprechende Stellen im Koran finden. Früher muss es nahegelegen haben, sich am Verhalten des Propheten und der nachfolgenden Generationen zu orientieren. Aber können Menschen, die vor über 1.000 Jahren lebten, in der heutigen Zeit noch Vorbilder sein?

„Als Muslime des 21. Jahrhunderts müssen wir den Koran neu lesen und in der islamischen Jurisprudenz modernere Methoden anwenden“, sagt Fatany. Sie weiß, wie weit sie gehen darf, und kritisiert nur die religiösen Gelehrten, nie die Politik. Fatany ist durch ihr Ansehen als Journalistin geschützt und durch ihren Mann, den früheren Chefredakteur der Saudi Gazette. Er soll gute Beziehungen zum Königshaus haben.

Fatany sagt, die Universitäten in aller Welt würden längst moderne Gelehrte in Scharia, islamischem Recht, und Fiqh, islamischer Jurisprudenz, ausbilden. Sie werten die Quellen neu aus. „Ihre Narrative sind logischer, liberaler und überzeugender.“

In Saudi-Arabien, dem Land, das mit seinem Reichtum und der Symbolkraft der heiligen Stätten den sunnitischen Islam prägt wie kein anderes, kommt davon nicht viel an. „Wir haben Menschen hier, die ihre Frauen hinter verschlossenen Türen halten, nicht Auto fahren oder arbeiten lassen.“ Wie viele Hardliner es genau sind, weiß niemand. Fünf Prozent der Saudis hätten eine positive Meinung vom IS, so das Ergebnis einer Umfrage, die im Oktober 2014 von einem US-Thinktank in Auftrag gegeben wurde. „Wir haben hier keine glaubhaften Um­fragen. Es gibt Daesh-Sympathisanten, bedrohlich viele sogar“, sagt Fatany.

Saudi-Arabien gilt als ideologische Geburtsstätte für islamistischen Terrorismus, die saudische Herrscherfamilie folgt einer besonders strengen Auslegung des Islam, nicht sehr weit entfernt von der des IS. Gotteslästerer werden auf öffentlichen Plätzen mit dem Schwert enthauptet, der Internetaktivist Raif Badawi ausgepeitscht.

Dabei müsse Saudi-Arabien den Kampf gegen den IS anführen, findet Fatany. Als Zentrum des sunnitischen Islam habe man hier eine moralische Verantwortung. „Wir brauchen Gelehrte, die mit fremden Kulturen und Perspektiven vertraut sind. Und ein neues Bildungssystem.“

Kairo, Ägypten: Der Konservative

Dreimal musste der Termin mit Ahmed Mohammed al-Tayyeb verschoben werden, der Großscheich ist viel beschäftigt. Nun sitzt der oberste Imam der Al-Azhar-Moschee und ehemalige Rektor der gleichnamigen Universität im dritten Stock des Verwaltungsgebäudes in seinem Büro. Er will darüber reden, wie sich seine über 1.000 Jahre alte Institution dem IS entgegenstellen kann. An der Al-Azhar-Universität werden Theologen aus allen islamischen Ländern ausgebildet und Gutachten zu Fragen aus Wirtschaft, Politik und Alltag erstellt. Am Eingang der Verwaltung stehen Wachleute, sie kontrollieren Fahrzeuge und Ausweise. Seitdem der IS auch in Ägypten Fuß gefasst hat, ist die al-Azhar in Gefahr. Die Attentate von Paris sind noch nicht geschehen.

„Als Muslime des 21. Jahrhunderts müssen wir den Koran neu lesen und modernere Methoden anwenden“

Im dritten Stock, wo Großscheich al-Tayyeb sein Büro hat, ist es still, sauber und angenehm kühl. Seine Mitarbeiter schauen auf den Boden, sie sprechen ihn leise mit „Fadilatu al-Scheikh“ an, „Euer hochstehender Scheich“. Al-Tayyeb ist eine Eminenz. Er trägt ein graues, glattgebügeltes Gewand, um seine rote Kopfbedeckung ist ein weißes Tuch gewickelt, der Bart kurz gestutzt. Sein Einfluss reicht von Marokko über Ägypten, die Türkei, bis nach Pakistan und Malaysia. Überall wird seine Meinung gehört, wo Sunniten leben. Und die machen 90 Prozent aller Muslime aus.

Al-Tayyeb versteht sich als Verteidiger des „einzigen und wahren“ Islam. „Wir versuchen, eine Stimme der Vernunft und des Friedens zu sein“, sagt er. Die al-Azhar ist gegen Kriege, auch gegen den zwischen Sunniten und Schiiten. „Wir widersprechen den Schiiten nicht, wir bekämpfen sie nicht.“ Ursprünglich ging es in dem Konflikt darum, wer der rechtmäßige Nachfolger des Propheten sei, seitdem werfen sich Sunniten und Schiiten gegenseitig vor, den Koran falsch zu deuten.

Al-Tayyeb hat ein Papier vor sich, darauf zeichnet er drei Kreise, drei Ebenen des Friedens: national, mit den Christen in Ägypten; regional, mit den Schiiten und den Ländern im Bürgerkrieg; und interna­tio­nal, mit der Menschheit ganz allgemein. „Zum weltweiten Frieden gehört auch die Verurteilung von terroristischen Anschlägen, auch auf nichtmuslimischem Boden.“

Der Terrorismus im Namen des Islam ist die größte Sorge des Großscheichs. Dass der IS es schafft, so viele Menschen für seine Ideologie, seinen Kampf zu begeistern, und auch dass der IS die mächtige, uralte al-Azhar klein und schwach erscheinen lassen könnte.

Deshalb will der Scheich die Klischees des Rückständigen, die an seiner Institution, ja an seiner Religion haften, widerlegen. Unserer weiblichen Begleiterin reicht er zur Begrüßung die Hand, schaut ihr in die Augen, wenn er mit ihr spricht. Entgegen der Vorschrift in seinem Haus, muss sie ihren Kopf nicht bedecken, sie trägt Jeans und eine Strickjacke, die den Hals nicht bedeckt. Er ist Kosmopolit, hat in Paris an der Sor­bonne, studiert, ist viel gereist. Ab und zu streut er fran­zösische Begriffe ein, sein Mitarbeiter reicht französische Schokolade. „Ladies first“ – natürlich.

„Isis erklärt Muslime und ihre Herrscher zu Ungläubigen, um seinen eigenen Dschihad zu rechtfertigen“, sagt al-Tayyeb. Der Islam aber lasse sich nur durch Argumente verbreiten, nicht durch Zwang, und „mit Waffengewalt schon gar nicht“. Er sagt bewusst Isis, „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“, denn: „Den einen Islamischen Staat kann es nicht geben.“ Die al-Azhar fordert, die Terroristen zu bekämpfen. Sie dürften nicht noch mehr Menschen schaden.

Al-Tayyeb will aufklären, einen Kampf um Begriffe führen. Eine fundamentale Reform der Religion aber lehnt er ab, genauso wie die Trennung von Politik und Religion. „Was wir brauchen, ist eine Rückbesinnung auf den Koran, keine neue Interpretation.“

Ob er eine Erklärung für den weltweiten Terror, für den IS ha­be? „Ja“, sagt al-Tayyeb. Verantwortlich sei das Chaos, das große Mächte in der Region stiften wollten, um eine neue Weltordnung zu schaffen, einen neuen Nahen Osten. Eine Weltmacht, „die sagt, das ist unser Imperium, hier sind unsere Grenzen, hier ist unsere Hauptstadt. Dabei ist es eine arabische Stadt.“ Der Frage, wen er genau meine, weicht er aus. Er muss Israel gemeint haben. „Auch die berufen sich auf die Religion. Warum fordert man denn ausschließlich vom Islam, sich von der Politik zu trennen?“

1961 wurde die al-Azhar verstaatlicht. Seither wird der Großscheich nicht mehr von der Institution selbst gewählt, sondern vom Präsidenten eingesetzt, was ihn weniger glaubwürdig macht. Der al-Azhar wird vorgeworfen, die Entscheidungen des Präsidenten mit der Religion zu legitimieren, dafür bekommt sie staatliche Unterstützung und Immunität. So sollen auch Unruhen vermieden werden. Der Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat eine religiöse Revolution von der al-Azhar gefordert. Veraltete Denkweisen hätten den Islam zu einer Quelle der Zerstörung gemacht. Schuld daran seien jahrhundertealte Interpretationen, die einmal für heilig erklärt wurden, sagte al-Sisi in seiner Neujahrsansprache im Januar 2015.

Nun hat der Großscheich al-Tayyeb neuen Lehrplänen zugestimmt. Zentrale Begriffe des ­Islam sollen anders vermittelt werden. Er erwähnt drei dieser Begriffe: Dschihad, Takfir und Hakimiyah. Wann soll ein Muslim in den bewaffneten Kampf ziehen? Wann darf er andere für ungläubig erklären? Was bedeutet Herrschaft, und wer darf über Muslime herrschen? Außerdem soll es einen neuen YouTube-Kanal geben, ein Satellitensender soll der Welt in sieben Sprachen den wahren Islam zeigen. In einem neuen Zentrum sollen wissenschaftliche Antworten auf den IS gefunden und seine Propaganda analysiert werden.

„Kommt bloß nicht auf die Idee, euch diesen Verbrechern anzuschließen und zu behaupten, das wäre für Allah“

Stolz erzählt der Großscheich von diesen Plänen, die doch nur eine Reaktion auf den IS bleiben. „Aber mit Theorie allein kommen wir nicht weit“, sagt er selbst. „Was wir brauchen, ist eine belebte Wirtschaft und Arbeitsplätze. Solange es Armut gibt, gibt es auch Unwissenheit.“

Wissenschaft, Bildung, eine neue Onlinestrategie. Gehört nicht auch Freiheit dazu, wenn man dem IS etwas entgegensetzen will? Meinungsfreiheit und die Unabhängigkeit vom Staat oder einer Herrscherfamilie. In Ägypten gibt es noch immer ein Blasphemiegesetz, das Land ist abhängig von saudischem Geld. Die theologischen Antworten sind vergiftet, weil sie immer politisiert sind. Tunesien, wo traditionell ein offener Islam gelebt wird, ist zu schwach, um seine Interpretation zu transportieren. Die Türkei könnte den Kampf gegen den IS anführen, die Demokratie ist zwar defekt, aber sie ist immerhin noch da. Recep Tayyip Erdoğan hat sich allerdings positioniert, gegen Assad, gegen die Kurden. Er braucht den IS also, um seine Feinde zu bekämpfen.

Istanbul, Türkei:Der Social-Media-Imam

Ahmet Mahmut Ünlü spricht nicht gern über Politik. Aber dass die von der Regierung bezahlten Imame, die in den großen Moscheen der Türkei die Freitagsgebete halten, sich nie zum IS äußerten, das wundere ihn doch. Fünf Stunden und zweiundfünfzig Minuten lang redet Ünlü in einer Ausgabe der Talkshow „Teke Tek“ auf dem türkischen Privatsender Haberturk. Bis in die frühen Morgenstunden zieht er über den IS her. Auf YouTube kann man die Sendung nachsehen. Mehr als 400.000 Menschen haben das schon getan, einige von ihnen sogar in voller Länge, wenn man den Kommentaren glauben darf.

Der 50 Jahre alte Ünlü, besser bekannt als „Cübbeli Ahmet Hoca“ – was so viel bedeutet wie „Meister Ahmet im Gewand“ – trägt Vollbart, Turban und eine lange, traditionelle Robe, der er seinen Beinamen verdankt. Er redet schnell, mit hoher Fistelstimme, in die er so viel Nachdruck legt, dass sie trotzdem autoritär klingt.

Wenn er über den IS schimpft, zitiert er immer wieder Passagen aus dem Koran, um seine Kritik theologisch zu untermauern. Die IS-Terroristen seien eine Bedrohung für alle Muslime und Nichtmuslime dieser Welt, sagt er. Witzfiguren, die noch nicht mal unter ihren echten Namen operierten, sondern alle „Abu irgendwas“ hießen. Und er sei natürlich mal wieder der Einzige, der sich traue, all das auszusprechen. Der Moderator der Sendung, der ansonsten nicht viel zu Wort kommt, nickt. Ja, ja, er könne das bestätigen, Meister Ahmet habe all das schon vor langer Zeit gesagt, und zwar genau hier, in dieser Sendung.

Ahmet Hoca ist hier oft zu Gast, bis zu dreimal im Jahr tritt er in der Talkshow auf. Dabei hat er genügend eigene Kanäle. Das Internet ist sein Reich, er ist der König unter den Social-Media-­Imamen des Landes. Über 2 Millionen Follower bei Facebook, Hunderttausende bei Twitter, Instagram und auf YouTube, wo er gleich mehrere Kanäle unterhält. Seit etwa einem Jahr hat er außerdem seinen eigenen Fernsehsender, den Internatkanal Lalegül TV. Er kennt sich aus, schon Mitte der Neunziger verdiente er Geld mit der Aufnahme und dem Verkauf seiner Vorträge auf Videokassetten.

In seinen Videos beschäftigt sich der Prediger mit allen großen und kleinen Fragen, die fromme Muslime beschäftigen: Ob Oralsex Sünde sei etwa (nicht unbedingt, er kenne jedenfalls keine Stelle im Koran, die ihn verbiete), oder ob man Geburtstage feiern dürfe (ja, es sei denn, man blase Kerzen aus und feiere „wie die Ungläubigen“) oder Hunde als Haustiere halten (nicht zu empfehlen, weil Engel sich dann aus Wohnungen fernhielten). Seine Fans lieben ihn für den Humor und die Hemdsärmeligkeit, mit der er seine konservativen Ansichten unters Volk bringt. Ahmet Hoca ist antimodern, frauenfeindlich und antisemitisch, er glaubt nicht an Demokratie oder die Freundschaft zwischen Andersgläubigen. Er ist für die Vielehe für Männer und die Vollverschleierung von Frauen, die ohnehin zu Hause am besten aufgehoben seien.

Eines seiner Lieblingsthemen aber ist der IS. Ausgerechnet ein reaktionärer Turbanträger ist der einzige muslimische Geistliche in der Türkei, der sich medienwirksam mit dem Thema auseinandersetzt.

In einem Video aus dem Sommer 2014 erklärt Ahmet Hoca, die Verbrechen des IS seien Vorzeichen des Jüngsten Gerichts. Er habe nichts als Hass und Verachtung für diese Leute. Muslime seien das auf keinen Fall, und ob sie das tägliche Gebet verrichten, halte er für fraglich. Allah werde sie bestrafen.

In einem anderen Video zitiert er angebliche Prophezeiungen des Propheten, die sich eins zu eins auf die Terrorbande des IS bezögen: „Eine schwache, unbedeutende Gemeinschaft wird von sich reden machen, sie haben Herzen aus Stahl, tragen Namen, die nicht ihre echten Namen sind. Sie werden einen Staat ausrufen und große Teile der muslimischen Welt angreifen, nehmt euch vor ihnen in Acht“, das habe der Prophet vor 1.400 Jahren verkündet, Ahmet Hocas hohe Stimme überschlägt sich vor Begeisterung. Dann der Appell an seine Follo­wer: „Kommt bloß nicht auf die Idee, euch diesen Verbrechern anzuschließen, um dann irgendwo Menschen zu ermorden und zu behaupten, das wäre für Allah. Und bitte teilt und verbreitet dieses Video, damit möglichst viele junge Menschen es sehen.“

Viele türkische Muslime mögen ihn. Und das, obwohl seine Karriere 1999 fast zu Ende war. Nach einem verheerenden Erdbeben in der Nähe von Istanbul hatte er in einer Predigt erklärt, die Katastrophe sei eine Strafe Gottes für Prostitution, Ehe­bruch und andere Laster. Die Rede brachte ihm eine zweijährige Haftstrafe wegen Volksverhetzung ein, danach wurde es still um ihn.

Hätte Mohammed getrunken? Manche Muslime im 21. Jahrhundert trinken gar nicht. Andere nur nicht vor dem Gebet. Wieder andere nur zum Fastenbrechen

Irgendwann war er dann plötzlich wieder da – bis er 2011 in einen neuen Skandal geriet. Er stand wegen Verdachts auf Erpressung und Zuhälterei vor Gericht, zeitgleich erschien ein verschwommenes Video, das ihn angeblich beim außerehelichen Sex zeigt. Ahmet Hoca stritt alles ab, wurde auf Bewährung verurteilt. Von den Skandalen redet heute kaum noch jemand, sein Anhängerkreis wächst und wächst. Der IS soll im Jahr 2014 Morddrohungen gegen ihn ausgesprochen haben. Er reagierte mit einer Videobotschaft an seine Fans: Die Todesliste des IS kümmere ihn nicht, die einzigen Todeslisten, die er ernst nähme, befänden sich in den Händen Allahs und des Todesengels Azrael. Seither ist er mit Personenschutz unterwegs.

Berlin, Deutschland: Die Pädagogin

Die Propaganda des IS wirkt auch in Europa. Die meisten Europäer, die sich dem IS anschlossen, hatten kaum Ahnung vom Islam. Sie radikalisierten sich in wenigen Wochen, heißt es. Die Mischung aus Actionfilm, Dschungelcamp, Ritterspielen und frühislamischem Kitsch hat sie gelockt. Vielleicht ist der IS doch kein Rückfall in barbarische Zeiten, sondern eine Kultur, die vieles von dem vereint, das junge Menschen anzieht. Im Berliner Bezirk Wedding macht sich eine Frau genau über diese Frage Gedanken. Sie hat einen Artikel geschrieben: „Auf einmal sind wir Mütter und Väter von Terroristen“, erschienen im Magazin Christ und Welt. Iman Andrea Reimann sitzt mit zwei weiteren Frauen in der Küche des deutschsprachigen Muslimkreises. Reimann ist eine zierliche Frau, weißes Kopftuch, lange Bluse über der Jeans. Auch die anderen beiden Frauen tragen Kopftuch. Wedding ist ein Einwandererbezirk, fast die Hälfte der Bevölkerung hat Migra­tions­hintergrund, wiederum die Hälfte davon stammt aus der Türkei oder einem arabischen Land. Nur: Zwei der drei Frauen in dieser Küche sind keine Migrantinnen. Sie wurden in Deutschland geboren und sind zum Islam konvertiert. Eine von ihnen ist Reimann. Iman ist ihr arabischer Vorname.

Beim deutschsprachigen Mus­lim­kreis treffen sich Konvertiten und andere Muslime, die sich in den oft ethnisch organisierten Moscheegemeinden nicht zu Hause fühlen. Reimann ist Vorsitzende, sie leitet außerdem einen Kindergarten und ist Expertin für pädagogische Fragen. In ihrem Artikel schrieb sie über muslimische Eltern, die fassungslos erleben, wie sich junge Muslime – schlimmstenfalls die eigenen Kinder – radikalisieren, wie sie Predigern auf den Leim gehen, die im Namen des Islam Krieg führen. Es geht um die Hilflosigkeit dieser Eltern, ihre Scham auch gegenüber der eigenen Gemeinde und darum, dass gefährdete Jugendliche noch stärker ausgegrenzt werden von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft.

Verändert der IS den Islam? Für die Antwort muss Reimann weit ausholen. „Ja, natürlich“, sagt sie, „und zwar im Negativen wie im Positiven.“ Letzteres wird sie später noch erklären.

Wie der Islam entstand

Der Gründer: Mohammed ist Kaufmann in Mekka, das heute in Saudi-Arabien liegt. Er wird „der Vertrauenswürdige“ genannt.

Die Erscheinung: Eines Tages sieht Mohammed einen Engel, der ihm sagt, er sei ein Prophet, ein Bote Gottes. Mohammed will die Menschen nun dazu bringen, nicht mehr zu verschiedenen Göttern, sondern nur noch zu einem zu beten: zu „Allah“. Die Mekkaner wollen ihn nicht hören. Zwölf Jahre lang predigt Mohammed.

Der Aufbruch: 622 n. Chr. verlässt er Mekka. In der Oase Jethriba gelingt es ihm, einen Streit zwischen zwei verfeindeten Stämmen zu schlichten, die ehemaligen Gegner schließen sich zusammen. Es ist das Jahr, das eine neue Zeitrechnung markiert: das erste Jahr des „Islam“.

Das Buch: Nach Mohammeds Tod binden seine Anhänger ihre Notizen zu einem Buch: dem „Koran“. Doch bei der Frage, wer Mohammeds Nachfolger werden soll, fällt die Gemeinde auseinander: in Sunniten und Schiiten.

Der IS mit seinen Tötungsvideos, seinem vor allem gegen Muslime geführten Krieg erfahre doch auch in der islamischen Welt vor allem Ablehnung. Das Problem sei, dass jetzt jeder seine Auffassung vom Islam im Internet verbreiten kön­ne. Ein Handel mit Begriffen sei da im Gange, sagt Reimann. „Junge Leute mögen schlichte, plakative Erklärungen.“

Der Propaganda im Internet könnten etablierte muslimische Gemeinden oft wenig entgegensetzen. Zu dilettantisch, zu uncool. Und auch der deutschsprachige Muslimkreis schafft das nicht.

„Nicht nur radikale Online­prediger sind ein Problem“, sagt Reimann. In einigen muslimischen Familien liefen permanent Fernsehberichte über Kriege in ihren Herkunftsländern, „schrecklichste Bilder“. „Oft sind die Kinder dann ohne jede Erklärung mit der Leidensgeschichte der Familie konfrontiert. Mit Erinnerungen und Emotionen, die gar nicht ihre eigenen sind.“ Das stumpfe ab. IS-Köpfungsvideos seien dann manchmal nur der nächste Schritt.

Wenn Reimann, 1973 in Potsdam geboren, seit 1994 Muslimin, über den Islam spricht, benutzt sie oft Worte wie Liebe, Barmherzigkeit, Verständnis. Dabei würde sie wohl nach mancher Definition als Fundamentalistin gelten. „Wir Konvertiten sind eben nicht in traditionell muslimischen Familien aufgewachsen“, sagt sie. „Wir orientieren uns am Koran und den Hadithen.“ Reimann engagiert sich in vielen Dialogforen. Dass sie gesetzestreue Bürgerin und gläubige Muslimin sein kann, steht für sie außer Frage – das ist eine Sache von Partizipation und Aushandlung.

Und genau da sieht Reimann die, wenn man so will, positiven Auswirkungen des Drucks, der durch islamistischen Terror entstanden ist: „Wir arbeiten immer stärker zusammen, auch über ethnische und Konfessionsgrenzen hinweg. Wir rücken näher an die Mehrheitsgesellschaft.“ Immer mehr Gemeinden würden sich öffnen, immer mehr Muslime, gerade junge, wollten sich an politischen Prozessen beteiligen. „Sie erkennen die Notwendigkeit, einen Islam zu entwickeln, der in die heutige Gesellschaft passt.“

Reimann wünscht sich, „dass sich die Muslime hier noch mehr frei machen von dem, was sie mitgebracht haben“. Auch wenn es um Themen wie den IS geht. „Es ist bequem zu sagen, da steckten der Mossad und die USA dahinter. Aber mit solchen Erklärungen tun wir Muslime uns keinen Gefallen.“ Stattdessen müsse offen darüber diskutiert werden, wie es zu solchen Entwicklungen wie dem IS kommen konnte.

Anouk Beslim, die Muslimin aus der Vorstadt Nizzas, hat ihre eigene Theorie dazu. „Gucken Sie sich doch mal um“, sagt sie und zeigt auf die Bürgersteige voller Schrott und Menschen, die in löchrigen Schuhen vorbeischlurfen. „Hier regiert die Hoffnungslosigkeit. Aber niemand kann hier raus.“ Gerade kämen zwei Dinge zusammen, die es für Muslime in Europa schwermachen, meint Beslim: Die Attentate machten den Menschen Angst. Und sie wollen nicht sehen, dass der Islam friedlich ist.

Der Koran ist ein abgeschlossenes Buch, Wissenschaftler gehen davon aus, dass es im siebten Jahrhundert entstand. Der Islam aber ist nicht abgeschlossen, er verändert sich zu dem, was Menschen aus ihm machen. Die einen gehen in den Krieg gegen die Ungläubigen, die anderen predigen Frieden. Vielleicht könnte sich in Euro­pa ein neuer Islam entwickeln, abgenabelt von der Politik der arabischen Länder und der Machtinteressen Erdoğans. Hier könnte man, anstatt auf die Geschichte zu verweisen, in die Zukunft denken und so die Widersprüche zwischen der traditionellen Auslegung und einer modernen Gesellschaft lösen. Die Frage, die bleibt: Ist Europa, vor allem nach dem Horror von Paris, bereit, eine Vision für den Islam zu schaffen?

Ständig vibriert Anouk Beslims Telefon. Freundinnen schicken ihr die Meldung, dass ihr Lieblingsbistro, ein Halal-Res­taurant, von der Polizei geschlossen wurde. Angeblich hatte ein Nachbar Verdächtiges beobachtet.

Viktoria Morasch, 27, ist Redakteurin der taz.am wochenende

Annika Joeres, 37, ist freie Autorin in Nizza

Jannis Hagmann, 32, ist Redakteur bei taz.de

Khalid el Kaoutit, 40, ist freier Autor in Kairo

Yasemin Ergin, 38, ist freie Autorin in Hamburg

Alke Wierth, 50, ist Redakteurin der taz.berlin

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