SPD-Niederlage in Hessen: Ein grüner Rathaus-Chef für Kassel
Bei der OB-Wahl in Kassel gewinnt Amtsinhaber Geselle, ein Ex-SPDler, den ersten Wahlgang – und wirft wegen einer „Kampagne“ hin.
Bei der Stichwahl in zwei Wochen steht somit mit dem Grünen Sven Schoeller nur noch ein Kandidat zur Wahl. Die Grünen lösen damit die SPD in ihrer früheren Hochburg als Nummer eins der Stadtpolitik ab.
Dabei schien am Sonntag die Sache bereits eine Stunde nach Schließung der Wahllokale gelaufen zu sein: Der amtierende Oberbürgermeister Geselle, der zwar mit seiner SPD gebrochen hat, aber von vielen Prominenten der Stadtgesellschaft unterstützt worden war, würde mit mehr als 30 Prozent der Stimmen den ersten Wahlgang gewinnen. Mit ihm erreicht der Grüne Schoeller, ein nur in Kassel bekannte Kommunalpolitiker, die Stichwahl. Abgeschlagen bleiben die Bewerberinnen von SPD und CDU.
Doch dann beginnt kurz vor 20 Uhr ein beispielloser Countdown. Der vermeintliche Wahlsieger Geselle erscheint nicht zu einem vereinbarten Interview. Dann der Paukenschlag. Das „Hessenwetter“ im hr-Fernsehen muss ausfallen, die anschließend vorgesehene Ausstrahlung der ARD-Tagesschau läuft zeitversetzt. Völlig überraschend für UnterstützerInnen und politische GegnerInnen verkündet Geselle live im Fernsehen seinen Rückzug.
Geselle beklagt eine „Diffamierungskampagne“ gegen sich
Geselle begründet das mit seiner Familie und mit einer „Diffamierungskampagne“, der er und seine Familie ausgesetzt gewesen seien. Deshalb werde er nicht zur Stichwahl antreten. Seine Gegner hätten ihn und seine Familie sogar mit „Aktionen“ vor seinem Wohnhaus einzuschüchtern versucht. Allerdings räumt der Oberbürgermeister auch eigene Fehler ein. Bei seiner Wahl zum Stadtoberhaupt hatte er vor sechs Jahren noch 55,6 Prozent erhalten – 24,1 Prozentpunkte mehr als am Sonntag. Auch dieses verlorene Vertrauen nennt er als Grund für seinen überraschenden Rückzug.
Für den Ministerpräsidentenkandidaten der Grünen Tarek Al-Wazir sind das gute Nachrichten aus Kassel. Der Wirtschaftsminister der schwarz-grünen Landesregierung will nach der Landtagswahl im Herbst in die Staatskanzlei umziehen und seinen bisherigen CDU-Koalitionspartner, Ministerpräsident Boris Rhein, beerben.
Tatsächlich ist das Ergebnis vom Sonntag ein Warnschuss für Rhein. Seine ehemalige Kabinettskollegin Eva Kühne-Hörmann, die für die Kasseler CDU antrat, landete mit 16,8 Prozent chancenlos auf Platz drei. Noch schlechter lief es am Sonntag nur für die SPD. Das Ergebnis in Kassel darf als Rückschlag für die Ambitionen von SPD-Landeschefin und Bundesinnenministerin Nancy Faeser gewertet werden, selbst nach der Landtagswahl am 8. Oktober als Ministerpräsidentin nach Hessen zurückzukehren. Sechs Monate vor dem Wahltermin nimmt der Dreikampf um die hessische Staatskanzlei nun Fahrt auf.
Die SPD stürzte zuletzt in Kassel immer weiter ab
Das Ergebnis der Oberbürgermeisterwahl in Kassel belegt den dramatischen Niedergang der SPD in ihrer einstigen Hochburg. In den 15 Jahren von 2006 bis 2021 hat die SPD bei Kommunalwahlen in Kassel mehr als 40 Prozent ihrer WählerInnen verloren. Bereits bei der Wahl 2011 konnten die Grünen die SPD als stärkste Partei im Stadtparlament ablösen. Die SPD fremdelt, auch in Kassel, mit den urban-studentisch geprägten Stadtteilen und klimabewegten Milieus.
Die grün-rote Regierungskoalition im Stadtparlament war 2022 nicht von ungefähr am Streit um die Verkehrspolitik zerbrochen. Der grüne Verkehrsdezernent hatte damals die Ausweitung von Tempo 30 und die Umwidmung von Straßen in Radwege angekündigt. SPD-Mann Geselle, Jurist und ehemaliger Polizeibeamter, sah dafür weder rechtliche Grundlagen noch eine Mehrheit in der Bevölkerung und entzog dem Grünen die Kompetenzen. Damit war die grün-rote Koalition in Kassel Geschichte.
Geselles Versuch, mit der CDU eine Koalition für eine autofreundlichere Politik durchzusetzen, scheiterte am Widerstand aus seiner Partei. Seitdem führen die Protagonisten der Kasseler SPD die Zerlegung der Partei öffentlich vor, mit Schmähschriften und bösen Briefen. Sie alle gehen nun als Verlierer vom Platz.
Mit dem Rechtsanwalt Sven Schoeller könnte nun im Juni erstmals ein Grüner in das Oberbürgermeisterbüro im Kassler Rathaus einziehen. Eine Formsache ist die „Stichwahl“ indes nicht, auch wenn nur ein Name auf dem Stimmzettel steht: Nur wenn mehr als 50 Prozent mit „Ja“ für den Kandidaten stimmen, ist er gewählt. Sonst gibt es Neuwahlen – und damit ein neues Drama in Kassel.
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