SPD-Mitglieder stimmen für die GroKo: Endlich wieder Macht
78 Prozent der SPD-Mitglieder haben abgestimmt, mehr als drei Viertel sagen „Ja“ zur GroKo. Parteichef Sigmar Gabriel hat gewagt und gewonnen.
BERLIN taz | Wo Großes verkündet wird, ist die Inszenierung nicht fern. Für diese sorgen am Samstagnachmittag die freiwilligen Helfer der SPD. In einem Kraftakt haben sie eine ganze Nacht und einen halben Tag lang die Stimmen jener SPD-Mitglieder ausgezählt, die sich am Votum ihrer Partei zum Koalitionsvertrag beteiligt haben. Genau 369.680 Wahlbriefe haben sie ausgezählt, 77,86 Prozent aller 474.820 Mitglieder haben also abgestimmt.
Am Ende, das soll hier vorweg gesagt werden, haben sie ihrer Parteiführung einen gigantischen Vertrauensvorschuss gegeben: Mit 75,96 Prozent Zustimmung kann die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in eine Koalition mit CSU und CDU eintreten. Drei von vier Genossen haben Ja gesagt. Endlich wieder Macht.
Doch vor diesem Ergebnis steht noch die erwähnte Inszenierung. In der Station Berlin, einem ehemaligen Postfuhramt, werden die zahlreichen Berichterstatter vor den leeren noch Mikrofonpulten positioniert, während sich ganz hinten in der riesigen Industriehalle die Helferinnen und Helfer versammelt haben. Die Partei-Granden lassen auf sich warten. Es sieht ein bisschen aus, als würden Demonstranten zurückgehalten. Und tatsächlich, auf ein Zeichen der SPD-Kampagnenleiterin hin strömen hunderte Helfer in breiter Front Richtung Journalisten. Sie klatschen und johlen, Kameras klicken - es ist das letzte Gefecht in jener Schlacht um Bilder und Bedeutungen, die die SPD fast zerrissen hätte.
Als SPD-Chef Sigmar Gabriel vor Beginn der Koalitionsverhandlungen verkündet hatte, er wolle, dass ganz zum Schluss die Parteibasis über das ausgehandelte Dokument entscheidet, war das Zittern groß. Zwar wurden die SPD-Unterhändler für ihre Strategie gelobt, alle 447.820 Genossen quasi mit am Verhandlungstisch Platz nehmen zu lassen und so auf die Union den Druck der Massen wirken zu lassen.
Aber wer konnte nach diesem Wahlergebnis von 25,7 Prozent wirklich sagen, ob sie zustimmen würden? Die SPD und ihr Spitzenkandidat Peer Steinbrück hatten im Wahlkampf die Union inhaltlich frontal angegriffen - die Gräben zur Merkel-Partei schienen unüberbrückbar. Und nun, drei Monate nach dem Wahlabend, sollten die Genossen eine solche Koalition absegnen? Kaum vorstellbar.
Aber die SPD-Spitze zog in den Kampf um die Stimmen ihrer Mitglieder. Auf Regionalkonferenzen erläuterten Spitzengenossen und Bundestagsabgeordnete den Inhalt des Koalitionsvertrages. Sie ließen sich beschimpfen und mussten sich gegen den Verdacht wehren, ihnen ginge es lediglich um Posten. Von dem, was Machtbeteiligung, und von dem, was Machtverzicht bedeuten würde, bekamen alle Beteiligten Stück für Stück einen Begriff. Und siehe da: die Stimmung drehte sich. Am Ende, man sieht es in den aufgeregten Gesichtern der in der Station Berlin eintreffenden Parteispitze, haben die wagemutigen Parteistrategen gewonnen.
Das Ding ist gewonnen
Als Sigmar Gabriel unter „Sigmar! Sigmar!“-Rufen der Helferinnen und Helfer schließlich ans Mikrofonpult tritt, sieht er wirklich fertig aus. Die Augen klein, das Gesicht grau. Aber man muss nur in Generalsekretärin Andrea Nahles' frohes Gesicht schauen oder auf Frank-Walter Steinmeiers fröhlich zuckenden Mund, um zu wissen: Die haben das Ding gewonnen. Und zwar richtig.
Und so ist es ja dann auch. Als Bundesschatzmeisterin Barbara Hendricks das hohe Zustimmungsergebnis verkündet, bricht in der Halle frenetischer Jubel aus. Sigmar Gabriel kann seine Freude kaum verhehlen. Er hebt die anerkennend die Brauen und bläst ein bisschen die Backen auf. Nur nicht zu viel Triumphgefühl zeigen. Dann lobt er aber noch mal seine SPD als „Beteiligungspartei", das Ergebnis nennt er „ein Fest innerparteilicher Demokratie“, dieser Tag werde nicht nur in die SPD-Geschichte eingehen, sondern auch in die Geschichte Deutschlands. Als er erklärt, er sei „lange nicht mehr so stolz gewesen, Sozialdemokrat zu sein“, glitzern seine Augen. Er hat gewagt und gewonnen. Das zählt.
Nach ihm meldet sich Generalsekretärin Andrea Nahles zu Wort. Sie bittet all jene Neumitglieder, die in die SPD eingetreten waren, um mit Nein zu stimmen, zu bleiben. „Die nächste Mitgliederabstimmung kommt bestimmt.“ Es folgt der Rückzug ans andere Ende der Halle. „Tschüs!“ ruft Gabriel der Medienmeute zu. Jubel. Abgang. Sieg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen