SPD-Fraktionschef über "Stuttgart 21"-Streit: "Merkel hat die Krise verschärft"
SPD-Fraktionschef Poß wirft der Kanzlerin vor, den Streit über das Bahn-Projekt "Stuttgart 21" anzuheizen. Sie suche nicht nach Lösungen, sondern schließe nur die eigenen Reihen.
taz: Herr Poß, die Krise um Stuttgart 21 eskaliert. Hat die Politik den Kontakt zur Bevölkerung verloren?
Joachim Poß: Herr Mappus auf jeden Fall. Die Leute haben den Eindruck: Hier wird ein Projekt durchgesetzt, koste es, was es wolle. Er hat mit seinem Vorgehen die Krise verschärft. Jetzt liegt er am Boden und versucht, sich zu retten. Aber es ist schon zu viel Schaden entstanden.
Auch Kanzlerin Angela Merkel ist klar für das Projekt.
Mit Blick auf ihre konservative Klientel hat auch Merkel die Krise verschärft. Sie hat nicht nach Lösungen gesucht, sondern wollte nur die eigenen Reihen schließen. Sie ist auf ihrem Entschiedenheitstrip.
Mappus sagt nun: Außer Baustopp sei alles verhandelbar, Heiner Geißler soll vermitteln.
Es geht den Demonstranten doch um mehr. Die Kosten sollten ursprünglich auf 4,5 Milliarden Euro gedeckelt werden. Seriöse Schätzungen gehen jetzt von der doppelten Summe aus. Wenn das so wäre, würde sich schon die Frage stellen, ob das noch geht.
Die SPD ist für Stuttgart 21 und fordert gleichzeitig den Volksentscheid. Nicht möglich, sagt Verfassungsrechtler Paul Kirchhof. Wie kommen Sie da raus?
Das ist das Gutachten der Landesregierung. Es gibt auch andere renommierte Meinungen. Entscheidend ist, dass der Konflikt befriedet wird. Und da ist der Volksentscheid der bisher sinnvollste Vorschlag.
61, amtierender Fraktionsvorsitzender der SPD. Er vertritt Frank-Walter Steinmeier, der wegen einer Nierenoperation noch einige Wochen ausfällt. Poß ist seit 1980 Bundestagsabgeordneter und seit 1999 Fraktionsvize für den Bereich Finanzen. Mit 54,3 Prozent der Stimmen erreichte er im Wahlkreis Gelsenkirchen bei der Bundestagswahl 2009 das beste Erststimmenergebnis der SPD.
Sie würden auch ein Projekt stoppen, das Sie unterstützen.
Ja, das ist so in der Demokratie.
Die SPD hat ein Problem: Unterstützer sammeln sich bei der CDU, Gegner bei den Grünen…
…wir stehen in der Mitte und suchen den Ausgleich zwischen unterschiedlichen legitimen Interessen. Das ist manchmal schwierig. Aber ehrlicher als ein vereinfachendes Ja oder Nein.
Das Risiko ist eine Quittung bei der Landtagswahl im März.
Mag sein, aber wir werden nicht aus billigen wahltaktischen Gründen zu einer Eskalation beitragen. Wir wollen den Konflikt lösen und nehmen das Risiko in Kauf.
Im Moment sieht es so aus, als würde die SPD nur dritte Kraft. Wollen Sie dann einer CDU nach Jahrzehnten zu einer weiteren Regierungsperiode verhelfen oder Juniorpartner bei den Grünen werden?
Ich setze auf Rot-Grün unter unserer Führung.
Wäre es vermittelbar, die CDU an der Macht zu halten?
Wir wollen, dass Mappus abgewählt wird. Große Koalitionen sind nicht unser Ziel, aber sie sind auch nicht in jedem Fall ein Unglück. Mit einem SPD-Wirtschaftsminister Dieter Spöri in einer großen Koalition hat das Land in den neunziger Jahren gute Zeiten erlebt.
Bei der Einkommensteuerdebatte gibt es gegensätzliche Positionen zwischen der baden-württembergischen SPD und Ihnen. Sie wollen Mehreinnahmen, Ihr Kollege Niels Schmid Entlastungen. Warum konnten Sie sich vor dem Parteitag nicht durchsetzen?
Das ist Quatsch. Wir wollen auf dem Parteitag 2011 ein neues Konzept beschließen. Auf dem Weg dahin haben wir jetzt erste Festlegungen getroffen. Wir wollen, dass der Spitzensteuersatz bei Singles ab einem Einkommen von 100.000 Euro bei 49 Prozent liegt. Davon ist nicht der Facharbeiter bei Daimler betroffen. Das ist eine Gespensterdebatte.
Das sagen die Jusos auch. Warum haben Sie deren Antrag eigentlich nicht unterstützt?
Die Jusos wollen sich profilieren. Das gehört zum Juso-Sein dazu. Ich muss hier aber den Laden zusammenhalten. Und darum werden wir uns die Zeit nehmen, um Antworten zu finden, wie wir Bildung, Kommunen und Zukunftsinvestitionen fördern können.
Also eher keine Entlastungen?
Vorstellbar ist, die Einkommensteuer zu erhöhen und die Abgaben für Gering- und Durchschnittsverdiener zu senken.
Ein Jahr nach der Regierung hat man den Eindruck: Die SPD hat Angst vor der eigenen Courage.
Das ist ein falscher Eindruck.
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