Fraktionschef Gysi über Linkspartei: "Zu lange mit uns selbst beschäftigt"
Linke-Fraktionschef Gregor Gysi über die neue Demonstrationskultur in Deutschland und die langsame Entkrampfung im Verhältnis der Linkspartei zur SPD.
taz: Herr Gysi, haben Sie Angst um die Linkspartei?
Gregor Gysi: Nein. Wir haben uns zu lange mit uns selbst beschäftigt. Das ist nie gut. Irgendwann interessiert es die Leute nicht mehr. Aber das haben bei uns jetzt fast alle begriffen.
In Umfragen liegt die Partei zwischen 8 und 10 Prozent. Was hat die Linkspartei falsch gemacht?
Wir waren zum Beispiel bei Wehrpflicht und Bundeswehr zu spät. Wir sind für die Abschaffung der Wehrpflicht. Aber für eine kleine und reine Verteidigungsarmee ohne Offensivbewaffnung. Das hätten wir deutlich machen müssen. Bei der Integrationsdebatte gilt ähnliches.
Zu Zeiten der Großen Koalition haben sie die SPD bei Hartz IV vor sich hergetrieben. Das geht nicht mehr, seit die SPD in der Opposition ist.
Naja, wenn die SPD die Rente mit 67 ein kleines bisschen korrigiert, erscheint das in den Medien als halbes Weltwunder. Unsere konsequentere Position erscheint da manchen dort als nicht mehr so interessant. Aber es stimmt: Wir waren als Korrektiv erfolgreich. Die SPD hat sich durch uns verändert, die Grünen, sogar die Union ein bisschen. Korrektive werden mal mehr, mal weniger gebraucht. Deshalb müssen wir jetzt zum Motor linker Politik werden.
Gregor Gysi, (62) ist seit 2005 Fraktionschef der Linksfraktion im Bundestag. Und seit Oskar Lafontaines Rückzug der mit Abstand bekannteste Politiker der Linkspartei. Er wohnt in Berlin und ist Rechtsanwalt. Von 1989 bis 1993 war er Chef der SED-PDS beziehungsweise PDS.
Wie das?
Wir müssen eigenständiger werden. Wir sind z. B. die einzigen, die gegen die Bundeswehr in Afghanistan sind, die einen größeren öffentlichen Dienst wollen - und auch sagen werden, wie man den finanzieren kann. Wir arbeiten an konkreten Ideen zum öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, den es nur gibt, wo wir mitregieren, in Berlin und Brandenburg.
Aber die Akzeptanz der Linkspartei nimmt nicht nur im Westen, sondern auch im Osten ab. Statt 63 Prozent 2009 sagen jetzt nur noch 46 Prozent der Ostdeutschen, die Linkspartei wäre eine normale Partei. Im Westen sind es nur 20 Prozent.
Ich weiß gar nicht, ob ich in diesem Sinne normal sein will. Wir müssen als Partei außergewöhnlich sein. Außerdem ist es doch schön, wenn es eine Angleichung von Ost und West gibt. Unsere Umfrageergebnisse im Osten machen mir jedenfalls keine Sorgen.
Herr Gysi, ist es eigentlich gesund für eine Partei, wenn sie nur eine einzige bekannte Führungspersönlichkeit hat?
Meinen Sie die FDP?
Nein, aber der geht es damit auch nicht gut.
Die Rolle der bekannten Persönlichkeiten wird überschätzt. Ich mag ja etwas eitel sagen, dass es an mir liegt, dass ich so bekannt bin. Aber vor allem lag es an dem Zeitpunkt, als ich in die Politik wechselte. Nie war das politische Interesse in Deutschland so groß wie im Dezember 1989.
Als die Partei zu Beginn des Jahres in einer Führungskrise war, haben Sie die Zügel in die Hand genommen - obwohl Sie in der Partei keine Funktion haben. Geht ohne Sie gar nichts?
Wenn ich morgen tot bin, wird es trotzdem weiter gehen. Wenn es mit mir aber besser geht, habe ich nichts dagegen. Man darf sich aber selbst nicht überschätzen.
Die Linkspartei hat noch ein Problem. Viele protestieren gegen Atomkraft und Stuttgart 21, aber nicht mehr wegen Hartz IV. Der Protest wird bürgerlicher -ihre Partei profitiert davon nicht.
Wir sind in Stuttgart Teil der Bewegung. Das merken die Leute, auch deshalb werden wir bei den Landtagswahlen gut abschneiden. Aber es geht tatsächlich um Themen, die nicht direkt uns zugeschrieben werden. Das fordert uns heraus. In Stuttgart ist ein neuer rebellischer Zeitgeist entstanden. Die Mentalität ändert sich. Und es geht in Stuttgart auch um Soziales. Es regt die Leute auf, dass für solche Projekte Milliarden da sind, aber kein Geld, um die Toilette in der Schule zu reparieren. Das ist auch ein Ventil für den Frust über die schwarz-gelbe Regierung, die ganz offen Klientelinteressen bedient.
Aber die Linkspartei hat davon nichts...
Abwarten. Bei Stuttgart 21 zeigt sich ein Demokratiedefizit. Das ist unser Thema, trotz unserer Vergangenheit.
Wundert es Sie nicht, dass keiner mehr gegen das Sparpaket und die Mini-Erhöhung von Hartz IV protestiert?
Hartz-IV-Betroffene schämen sich zum Teil für ihre Situation. Viele verschweigen es ihren Nachbarn. Außerdem gibt es einen Gewöhnungseffekt. Manche haben resigniert. Diese Schicht geht im Moment nicht auf die Straße. Aber das kann sich auch schnell und unvorhersehbar ändern. Die Unzufriedenheit ist noch immer riesig.
Als Sie im Bundestag über Stuttgart 21 geredet haben, haben auch SPDler und Grünen applaudiert. Hat sie das überrascht?
Auf jeden Fall ist es neu. Es gibt jetzt eine gewisse Normalisierung und Entkrampfung. Wir klatschen jetzt auch bei manchen Reden der Grünen oder Sozis. Das gab es früher nicht. Nach der Wahl des Bundespräsidenten haben die Klügeren in der SPD begriffen, dass es so nicht geht. Jetzt gibt es Gesprächskreise mit SPD und Grünen.
Also ein Hoffungsschimmer für Rot-Rot-Grün?
Es ist alles im Fluss. Die SPD ist ja noch nicht mit sich fertig. Die Grünen sind noch enttäuscht, dass es mit der Koalition mit der Union wohl nichts wird. Also Vorsicht.
Das zentrale Spielfeld für Rot-Rot-Grün ist derzeit NRW.
Ich bin gespannt, mit wem Rot-Grün ihren Haushalt durchbringen. Derzeit scheinen SPD und Grüne einen Kompromiss mit der Linken zu suchen. Es ist offen, aber es gibt sachliche Gespräche.
Der nächste Konflikt mit der SPD ist absehbar: die Wahl Sachsen-Anhalt im März 2011. Die SPD liegt derzeit weit himnter der Linkspartei, wird aber keinen linken Ministerpräsidenten wählen. Was dann?
Das ist das Problem der SPD. Wenn wir stärker werden als die SPD, werden wir keinen Sozialdemokraten zum Ministerpräsidenten wählen. Das wäre ja dann die Regel für die nächsten 20 Jahre. Was hätten die Leute noch für einen Grund, uns stärker zu wählen?
Das ist parteitaktisch gedacht.
Wenn Sie meinen. Aber wir lassen uns nicht demütigen. Dann blieben wir eben in der Opposition und die SPD müsste sich weiter verbiegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?