Russland vertuscht Konjunktureinbruch: Krise ist für Kreml keine Krise
Obwohl die Finanzkrise auch Russland mächtig beutelt, leugnet die Regierung in Moskau Probleme. Der Grund: Sie weiß nicht, wie sie die Folgen in den Griff bekommen soll.
Vera besitzt einen untrüglichen Sinn für leise Trends. Auch geringe mentale Verschiebungen des Milieus entgehen ihr nicht. Die junge Frau ist ein verlässlicher Seismograf in der Welt des Moskauer Glamours und der Gatte ein wohlbetuchter Geschäftsmann. "Früher rümpften Bekannte die Nase, wenn ich in billigeren Läden einkaufte", sagt sie. "Inzwischen gehen sie selbst hin." Schon ein Blick auf die Parkplätze vor den großen Supermärkten bestätigt das. Luxuskarossen waren dort vor einem Vierteljahr noch nicht zu sehen.
Die Finanzkrise hat auch Russland schwer getroffen. Der Aktienmarkt verlor mehr als 70 Prozent des Werts, der Rubel steht vor der Abwertung und der niedrige Ölpreis spült nicht mehr genügend Reserven in die Kassen. Moskaus Börsen müssen regelmäßig den Handel aussetzen, um Schlimmeres zu verhüten. Kurzum: Russland hat es schwer erwischt.
Die Einsicht, dass die fetten Jahre vorbei sind, hat sich jedoch noch nicht überall herumgesprochen. Mehr noch: Offiziell hat die Krise einen Bogen um das Land gemacht. Wer sich über staatliche Medien informiert, dem wird wohlig schummrig angesichts eines strauchelnden Westens, der über dem Abgrund hängt. Denn daheim sieht es anders aus. Laut Kreml verzeichnet Russland nur einen leichten "Rückgang" oder "verminderte" Gewinn- und Wachstumserwartungen.
Dennoch ordnete Präsident Dmitri Medwejew Anfang November an, krisenbedingte soziale Unruhen im Keim zu ersticken. In einigen Regionen baut das Innenministerium spezielle Anti-Krisen-Einheiten auf.
Im überhitzten Moskau erschließt sich die Zeitenwende nicht auf den ersten Blick. Kleinigkeiten sind verräterisch. Geldautomaten geben häufig keine Dollar oder Euro mehr raus. Das Abheben eines kleineren Valutabetrags muss schriftlich beantragt werden und zieht sich unendlich hin. Baustellen, auf denen rund um die Uhr gearbeitet wurde und die nun über Nacht brachliegen. Unbekannte Phänomene wie die junge Taxifahrerin Rita. Die 26-Jährige kaufte im Sommer einen Peugeot auf Pump. Im Oktober wurde die Verkaufsmanagerin entlassen, jetzt fährt sie Taxi. "Ich habe keine Wahl, der Kredit muss abgezahlt werden. Gespart habe ich vom Gehalt nichts", sagt Rita. Ihr Beruf gehört zu den zehn am wenigsten gefragten in Moskau.
Werbefachleute, Bankangestellte und Analysten sind gleichermaßen betroffen. Einer von ihnen ist Oleg, der in einem bekannten Investmentunternehmen arbeitet. "Noch hab ich den Job, doch wer weiß, wie lange", meint der 30-Jährige. "Sparen? Was ist das? Kannte ich nicht." Sein erstes Sanierungsprogramm: Er isst nicht mehr zweimal täglich in einem teuren Restaurant wie früher, sondern begnügt sich mit Fast Food.
Die Krise wirkt sich nach Umfragen des FOM-Instituts bislang auf jedes dritte Unternehmen in Russland aus. Den Höhepunkt der Zahlungsunfähigkeit erwarten Experten indes erst im Frühjahr. Der Kreml stellte den Banken zwar ein Rettungspaket von mehr als 50 Milliarden Dollar zur Verfügung. Das Geld kam bei den kleineren Bankhäusern in der Provinz und Kreditnehmern aus dem Klein- und Mittelgewerbe jedoch nicht an. Viele Unternehmen stehen vor dem Bankrott. Gleichzeitig flossen 50 Milliarden Dollar im Oktober außer Landes, so viel wie nie zuvor. So dass Premier Wladimir Putin die Regierung anwies, die Bankenaufsicht zu verschärfen.
"Geld ist wie Wasser, es kommt und geht", heißt es in einem russischen Sprichwort gelassen. An Krisenerfahrung kann den Russen in der Tat so schnell niemand das Wasser reichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei