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■ Russland: Warum Jelzins Korruptionsaffäre jetzt bekannt wirdEin produktiver Skandal

Für viele kommt der Skandal um die verschobenen russischen Gelder zu rechten Zeit. In den USA können die Republikaner dem demokratischen Vizepräsidenten Al Gore, der gerne Präsident werden möchte, etwas anhängen. Immerhin war er seit 1993 für die Beziehungen mit Russland zuständig und kannte die Vorwürfe – wenn auch nicht im Detail.

Dass Gore bzw. der Westen Jelzin dennoch unterstützte, hatte einen Grund. Er schien die einzige Alternative zur mächtigen KP zu sein. Daher wurde auch die Rede von der „Fortführung der Reformen“ beibehalten, obwohl es kaum noch welche gab. Und die Kredite wuchsen und wuchsen.

Dass der Skandal jetzt bekannt wird, ist kein Zufall. Nun gibt es nichtkommunistische Alternativen zu Jelzin – vor allem den Moskauer Oberbürgermeister Lushkow und seine Verbündeten. Ohne einen Skandal, der westliche Unterstützung mobilisiert, hätten sie sich gegen die geballte institutionelle Macht Jelzins aber kaum durchsetzen können. Der Staatsstreich per Ausnahmezustand, der noch nicht ganz unmöglich ist, war zuletzt mehr als denkbar geworden. Jelzin und seine „Familie“ setzten seit Monaten alles ein, um eine Aufklärung zu verhindern.

Auch der Geheimdienst FSB, Nachfolger des KGB, ist bei seinen Recherchen offenbar ausgebremst worden. Er griff auf eine schon in spätsowjetischen Zeiten bewährte Taktik zurück und spielte das Material westlichen Kollegen zu. Für die „Familie“ Jelzin ist dies gefährlich. Es handelt sich ja nicht um ein paar veruntreute Millionen, wie sie der Westen befreundeten Kleptokraten immer schon zugestanden hat. Die wahrscheinlich veruntreuten Summen übersteigen alle Dimensionen, die Zyniker hinzunehmen gewohnt sind. Die russische Desorganisation ist damit nicht nur ein Problem beim Übergang zum Kapitalismus. Die Renten und die Löhne, die nicht ausgezahlt wurden, das Geld, das für eine rationale Marktwirtschaft nötig wäre: Alles lagerte auf privaten Konten im Westen.

Der Skandal kann produktive Folgen haben. Er wird die Resignation der Russen vielleicht in Unmut verwandeln. Der Westen muss neue Kriterien für Wirtschaftshilfe finden: Ab welcher Summe ist die Ausplünderung eines Landes durch seine Oligarchien kein Kavaliersdelikt mehr? Erhard Stölting

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