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Russischunterricht in AserbaidschanDie Angst vor der fünften Kolonne

Etwa 10 Prozent der Schü­le­r*in­nen lernen in Aserbaidschans Schulen auf Russisch. Viele im Land kritisieren das, auch aus politischen Gründen.

Sorge vor dem „russischen Sektor“: Schulkinder in Aserbaidschans Hauptstadt Baku Foto: Anthony Asael/Hemis/laif

Lange galten die russisch-aserbaidschanischen Beziehungen als stabil und partnerschaftlich. Damit war es schlagartig vorbei, als Ende Juni zwei Aserbaidschaner in der russischen Stadt Jekaterinburg getötet wurden. Es folgten heftige Proteste in Aserbaidschan. In dem Zusammenhang wurde auch darüber diskutiert, russischsprachige Bildungseinrichtungen zu schließen. Wieder einmal.

Endlich, freuten sich diejenigen, die meinten, dies hätte bereits nach dem endgültigen Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 geschehen müssen. Aber sie hatten sich zu früh gefreut. Anfang Juli dementierte das aserbaidschanische Ministerium für Wissenschaft und Bildung alle Behauptungen, das Ende der russischsprachigen Schulen sei nah.

Nach offiziellen Angaben werden in den staatlichen allgemeinbildenden Schulen Aserbaidschans derzeit bis zu 160.000 Kinder auf Russisch unterrichtet. Das sind etwa 10 Prozent. Dabei ist Aserbaidschanisch die Amtssprache. Russisch wird zwar fast überall gebraucht und fungiert als zweite Sprache im Land, hat aber keinen offiziellen Status.

Die meisten Schulen, die Russischunterricht anbieten, sind tatsächlich zweisprachig und unterrichten auch auf Aserbaidschanisch. Der Großteil von ihnen befindet sich in der Hauptstadt Baku. Wobei nur ein kleiner Teil der Schü­le­r*in­nen dort russischsprachig aufgewachsen ist oder aus gemischtsprachigen Familien stammt. Die meisten haben aserbaidschanische Eltern, die selbst nicht unbedingt Russisch sprechen.

Lebenslang „russischer Sektor“

Die russischsprachigen Schulklassen in Aserbaidschan werden „der russische Sektor“ genannt. Dazu zählen auch die Schü­le­r*in­nen und Ab­sol­ven­t*in­nen dieser Klassen, und sie bleiben es ihr Leben lang.

In Baku lebt nicht nur fast die Hälfte der Menschen des Landes. Hier ist auch die überwiegende Mehrheit der russischsprachigen Bevölkerung konzentriert. Schon lange gibt es eine sprachliche Trennung: Menschen im russischen und im aserbaidschanischen „Sektor“ betrachten einander oft als Fremde. Bis heute ähneln persönliche Begegnungen zwischen den „Sektoren“ vorsichtigen Kontaktaufnahmen zweier verschiedener Zivilisationen.

Die aserbaidschanische Regierung schweigt sich zwar aus zu der Frage, warum am russischsprachigen Unterricht festgehalten wird. Dafür kursieren in der Öffentlichkeit zwei Vermutungen. Erstens, heißt es, sind der autoritär regierende Präsident des Landes, Ilham Aliyev, und seine gesamte Familie ursprünglich russischsprachig. Die älteste Tochter des Präsidenten, Leyla Aliyeva, wurde wiederholt dafür kritisiert, dass sie Gedichte auf Russisch statt auf Aserbaidschanisch verfasst. Eine persönliche Neigung von ganz oben also.

Zweitens glauben viele, dass der russischsprachige Unterricht eine Art Zugeständnis an Russland und ein Loyalitätsbeweis der Regierung ist. Russland versteht und schätzt diese Geste. So dankte der russische Präsident Wladimir Putin im August 2024 während eines Besuchs in Baku den aserbaidschanischen Behörden ausdrücklich dafür, der Entwicklung der russischen Sprache „Aufmerksamkeit zu widmen“.

Unter Generalverdacht

Geg­ne­r*in­nen der russischsprachigen Bildung in Aserbaidschan kritisieren, dass der Unterricht in einer Fremdsprache staatlich alimentiert wird. Egal ob Spanisch, Chinesisch oder eben Russisch: Eltern, die darauf Wert legten, sollten ihre Kinder gefälligst auf Privatschulen schicken und selbst dafür aufkommen, heißt es.

Außerdem unterstellen die Geg­ne­r*in­nen den Ab­sol­ven­t*in­nen russischsprachiger Schulen, prorussisch eingestellt zu sein. Sie würden sofort auf die Seite Russlands wechseln, sollte die russische Regierung beschließen, Aserbaidschan anzugreifen. Eine Art „fünfte Kolonne“ also. Nicht zuletzt der Vorwand Russlands für den Einmarsch in die Ukraine, die russischsprachige Bevölkerung schützen zu wollen, befeuerte solche Vorteile.

Unterdessen ist die Nachfrage nach russischsprachigem Unterricht derart stark gewachsen, dass sie inzwischen sogar das Angebot übersteigt. In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der Schü­le­r*in­nen im „russischen Sektor“ um das Anderthalbfache erhöht.

Warum das so ist? Ein Stereotyp aus der Sowjetzeit besagt, dass die Bildung dort besser sei. Zudem begreifen es viele Eltern als Chance, dass ihr Kind dort kostenlos eine Fremdsprache lernen kann. Tatsächlich sind Russischkenntnisse oft notwendige Voraussetzung für eine Anstellung, etwa in Dienstleistungsberufen. Wer Russisch beherrscht, ist auf dem Arbeitsmarkt „wettbewerbsfähiger“. Noch besser ist Englisch. Aber das zu erlernen, kostet eben.

Nachfrage übersteigt Angebot

Zur Kehrseite gehört, dass Kinder aus rein aserbaidschanischsprachigen Familien an den betroffenen Schulen ernsthafte Lernschwierigkeiten haben. Das Bildungsministerium hat deshalb zwar beschlossen, die Sprachkenntnisse für den russischsprachigen Unterricht vor dem Schulstart zu prüfen. Aber auch das hat das Problem offenkundig nicht gelöst.

„Meine Tochter hat 40 Kinder in ihrer Klasse“, klagt etwa Fidan Huseynova aus Baku. Sie hatte ihr Kind im „russischen Sektor“ angemeldet, ohne die Folgen zu bedenken, wie sie betont. „Warum reden wir von qualitativ hochwertiger Bildung, wenn die Lehrer nicht genügend Zeit haben, sich jedem einzelnen Schüler zu widmen?“ Nicht zuletzt der Aserbaidschanisch-Unterricht sei mangelhaft. Ihre Tochter beherrsche die Sprache ihre Familie daher nicht einmal fließend, sagt Huseynova.

Kamil Yusufov, Geschichtslehrer in Baku, bestätigt, dass fehlende Aserbaidschanisch-Kenntnisse ein weitverbreitetes Problem sind. Dass das Bildungsministerium zuletzt anordnete, das Fach Geschichte im „russischen Sektor“ ausschließlich auf Aserbaidschanisch unterrichten zu lassen, hält er trotzdem für eine Katastrophe. Der Geschichtsunterricht werde zur Qual für Schü­le­r*in­nen und Lehrer*innen. „Anstatt den Stoff zu erklären, verbringe ich die Hälfte der Stunde damit, den Inhalt des Lehrbuchs zu übersetzen“, sagt Yusufov. „Es ist erschreckend und absurd.“

Nicht alle Ab­sol­ven­t*in­nen des russischen Zweigs bestehen die verpflichtende Aserbaidschanisch-Prüfung am Ende ihrer Schulzeit. Wer durchfällt, darf sich ein Jahr lang nicht an aserbaidschanischen Universitäten bewerben – eine nachgerade verrückte Situation.

Ambivalentes Verhältnis zu Russland

Wie in anderen postsowjetischen Ländern ist auch das Verhältnis der Aser­bai­dscha­ne­r*in­nen zu Russland insgesamt ambivalent. Für viele ist der große Nachbar eine Kolonialmacht, der dazu noch das verfeindete Armenien im ersten Bergkarabach-Krieg unterstützt hat. Gleichzeitig wandern Hunderttausende Aser­bai­dscha­ne­r*in­nen nach Russland aus, um dort zu arbeiten und ihre Familien in der Heimat zu versorgen, und das zum Teil sehr erfolgreich. Unabhängig davon existiert die russische Sprache aber für viele, vor allem unpolitische Aser­bai­dscha­ne­r*in­nen losgelöst vom russischen Staat.

Klar ist: Trotz der vielen Probleme lässt sich der „russische Sektor“ nicht einfach schließen. Ex­per­t*in­nen sagen, dann würde das Bildungssystem zusammenbrechen. Wenn überhaupt, dann bräuchte es einen schrittweisen Übergang, durch langsame Reduzierung der russischsprachigen und eine entsprechende Erhöhung aserbaidschanischsprachiger Klassen. Man sollte keine neuen Schü­le­r*in­nen beim „russischen Sektor“ aufnehmen, aber den dort bereits lernenden Kindern und Jugendlichen ermöglichen, ihre Ausbildung zu beenden.

Schließt endlich den russischen Sektor

Kamil Yusufov, Geschichtslehrer aus Baku

„Schließt endlich den russischen Sektor“, fordert dagegen Geschichtslehrer Kamil Yusufov. Für ihn stehen nicht die politischen Argumente im Vordergrund, sondern die Bildung. Das Bildungsministerium ignoriere die großen Probleme in russischsprachigen Klassen schlichtweg. Da sei es besser, den ganzen Sektor dichtzumachen.

Dass die aktuelle Regierung seiner Forderung nachkommt, darf bezweifelt werden. Nicht einmal auf dem vorläufigen Höhepunkt der Spannungen zwischen Aserbaidschan und Russland im Sommer gab es Pläne für Klassenschließungen. Alle offiziellen Stellungnahmen zu diesem Thema beschränken sich darauf, entsprechende Gerüchte in sozialen Netzwerken und Medien zu dementieren.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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