Russische Luftangriffe auf Kyjiw: Dichter Rauch über der Stadt
In der Nacht zu Dienstag hat Russland die ukrainische Hauptstadt erneut massiv mit Drohnen und Raketen angegriffen. Unsere Autorin aus Kyjiw schildert eine schlaflose Nacht.

Normalerweise gehe ich abends gegen elf Uhr ins Bett. Vorm Einschlafen lese ich immer Nachrichten, obwohl Psychologen davon abraten, weil es den Schlaf stört.
Auch in der Nacht zu Dienstag scrollte ich noch einmal durch Telegram-Kanäle und las die Warnung vor möglichen massiven Luftangriffen auf die Ukraine. Es gab auch Informationen, dass strategische Bomber vom Typ Tu-95MS vom nordrussischen Militärflugplatz Olenja gestartet seien. Das deutete schon darauf hin, dass es neben den üblichen Angriffen mit Shahed-Drohnen auch ballistische Raketenangriffe geben könne. Schlafen mochte ich da nicht mehr. Und dann ertönte auch schon die Sirene und man konnte hören, wie in der Umgebung von Kyjiw die ersten Drohnen abgeschossen wurden.
Der Korridor als Schutzraum
Zuerst blieb ich im Bett, versuchte mich abzulenken und ein Buch zu lesen. Doch dann dachte ich darüber nach, in den Flur zu gehen, um dort die Gefahr abzuwarten. In der Nähe meines Hauses gibt es keine Schutzräume, daher ist mein Flur für mich der sicherste Ort. Zwei Wände schützen mich dort vor der Straße. Für solche Fälle hatte ich mir extra eine Matratze gekauft, um darauf bis zum Ende des Luftalarms im Flur liegen zu können.
Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.
Ich weiß nicht warum, aber dieses Mal entschied ich, im Bett zu bleiben. Gegen Mitternacht hörte ich ein lautes Motorradgeräusch und dachte, dass da eine Drohne wohl sehr in der Nähe fliegen müsse. Aber es war tatsächlich ein echtes Motorrad auf der Straße. Falls Sie es nicht wissen: das Geräusch russischer Drohnen, mit denen Ukrainer getötet werden sollen, und das eines Motorrades sind identisch.
Die nächsten zwei Stunden lag ich wach und hörte die Shahed-Drohnen und wie unsere Flugabwehr versuchte, sie abzuschießen. Zwischendurch dämmerte ich ein bisschen weg. Gegen vier Uhr früh rief mich eine Freundin aus Tscherkasy an und sagte, dass über ihre Stadt hinweg Raketen auf Kyjiw fliegen. Da entschied ich, doch in meinen „Schutzraum“ zu gehen. Vom Flur aus hörte ich durch das geöffnete Schlafzimmerfenster laute Explosionen. Sie ähnelten einem sommerlichen Gewitter.
Körper signalisiert Gefahr
Ob ich Angst hatte in diesem Augenblick? Nein, ich hatte keine Angst. Ich dachte daran, dass ich wieder unausgeschlafen zur Arbeit würde gehen müssen. Dass ich am Morgen höchstwahrscheinlich Bilder von getöteten Ukrainern und zerstörten Häusern sehen würde. Und auf Instagram die traurigen Emojis dazu.
Wahrscheinlich schützt sich meine Psyche irgendwie und möchte das alles, was passiert, nicht vollständig glauben. Aber körperlich reagiere ich anders: wenn ich eine Explosion höre, erstarrt mein Körper, sogar mein Atem setzt kurz aus. Dann lausche ich in die Stille und treffe schnell Entscheidungen, die mir das Leben retten sollen.
Mehrere massive Angriffe im Juni
Bis zum Morgen blieb ich im Flur sitzen. Aber gegen sechs Uhr zog ich dann doch in mein Bett um. Früher kam es alle paar Monate oder sogar nur einmal im Halbjahr zu solch massivem Beschuss. Jetzt war es schon der dritte oder vierte so massive Luftangriff seit Anfang Juni und es ist ein wenig beängstigend, daran zu denken, was als Nächstes kommt.
Um zehn Uhr fuhr ich mit der Metro zur Arbeit. Und mit mir fuhren Kinder, Erwachsene, alte Menschen, um weiter ihren Alltag, ihr Leben zu leben. Als die Metro über eine Dnipro-Brücke fuhr, konnten wir alle den dichten Rauch sehen, der nach den nächtlichen Bränden noch immer über der Stadt hing.
Aus dem Ukrainischen Gaby Coldewey
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