Runder Tisch in Belarus: Lukaschenko im Knast
Der Autokrat trifft Oppositionelle im Gefängnis. Ein Eingeständnis von Schwäche. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 22.
A m Samstag besuchte Lukaschenko das KGB-Gefängnis. 11 Personen, Gefangene, waren bei dem Treffen zugegen, unter ihnen auch der wichtigste Präsidentschaftskandidat, Viktor Babariko.
Mehr als vier Stunden hat das Treffen Lukaschenkos mit seinen Gefangenen gedauert. Doch das einzige, was von dem Gespräch an die Öffentlichkeit gedrungen ist, war Lukaschenkos Aussage: „Eine Verfassung schreibt man nicht auf der Straße“.
Записи из дневника на русском языке можно найти здесь.
Lilia, eine Psychologin in Minsk, besucht regelmäßig mit ihrem Mann und ihrer Tochter, einer Studentin, Demonstrationen gegen das Lukaschenko-Regime. Sie sagt:
„Wir leben jetzt in einem Land, das von einem nicht legitimierten Präsidenten geführt wird, und in dem sich niemand mehr für dich einsetzt, wenn du hinter Gitter geraten solltest. Einfach deswegen, weil praktisch niemand mehr in Freiheit ist, der sich für inhaftierte Demonstrierende einsetzen könnte. Dass das so ist, hat der Besuch von Lukaschenko am Samstag im KGB-Gefängnis gezeigt.
Mit seinem Besuch hat er eingestanden, dass die Gefangenen im KGB-Gefängnis keine Verbrecher, sondern politische Gefangene sind. Ich glaube, es gibt keinen besseren Gradmesser für den Erfolg unserer Bewegung als dieser Besuch des Präsidenten im Gefängnis. Wir sind es, die es geschafft haben, den inneren und äußeren Druck auf das Regime so anwachsen zu lassen, dass sich der Präsident zu dem samstäglichen Treffen mit den führenden Persönlichkeiten der Opposition genötigt sah.
Doch dieses Treffen läßt sehr viele offene Fragen und Überlegungen zurück. Und natürlich muss man es auch im Licht von Lukaschenkos Worten sehen, der einmal gesagt hatte, dass er niemals die Macht freiwillig abgeben würde. Das heißt, er spielt auf Zeit. Und dabei lenkt er immer wieder die Aufmerksamkeit der Menschen auf Dinge, die gar nicht wichtig sind, wie seine angestrebten Verfassungsänderungen.
35 Jahre alt, lebt in Minsk und arbeitet bei dem Portal AgroTimes.by. Sie schreibt über besonders verwundbare Gruppen in der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung, LGBT, Geflüchtete etc.
All dies tut er, weil er den Menschen auf der Straße den Wind aus den Segeln nehmen und die Wirtschaft beruhigen will. Doch wir wissen sehr genau, dass innerhalb von zwei Monaten ungefähr 14.000 Belarussen von ihm auf die eine oder andere Weise bestraft oder verfolgt worden sind und dass bei ihm nur zwei Dinge zählen: Zuverlässigkeit und absolute Loyalität ihm gegenüber.
Es ist bezeichnend, dass Sergej Tichanowski nicht dabei war. Hinter ihm steht immerhin eine ganz bestimmtes Segment der Gesellschaft. Und Sergej selbst hatte ja auch für das Amt des Präsidenten kandidieren wollen. Ebenfalls nicht dabei war Maria Kolesnikowa. Und sie ist doch Vorstandsmitglied des Koordinierungsrates. Und natürlich war Lukaschenkos Auftritt auch wieder von jeder Menge Sexismen durchsetzt.
Was war das nun? Ein Dialog? Ein Monolog? Was heißt das jetzt für die Zukunft? Nach wie vor ist kein einziges Strafverfahren wegen Folter, wegen Mordes oder wegen Misshandlung von Inhaftierten oder Demonstrierenden eingeleitet worden. Polizisten sind nach wie vor eine Kaste der Unberührbaren. Und von Neuwahlen ist schon gar keine Rede.
Die Machthaber fahren ungeniert mit ihren Einschüchterungsmaßnahmen fort. Am vergangenen Sonntag wurden bei der Demonstration wieder mehr als sechshundert Menschen verhaftet, darunter auch über 30 Journalisten. Die Polizei hat Wasserwerfer und Blendgranaten eingesetzt, hat sogar geschossen.“
Nachtrag: Zwei Personen wurden nach dem Lukaschenko Besuch im KGB-Gefängnis freigelassen, der Direktor einer IT-Firma und ein Politologe.
Aus dem Russischen Bernhard Clasen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen