■ Rückführung: Willkür mit System
Dezember 95, Januar 96, Mai 96, September 96. Viermal haben die Innenminister von Bund und Ländern bereits über das Thema „Rückführung nach Bosnien-Herzegowina“ konferiert und – unter generöser Mißachtung aller Kritik – viermal dasselbe beschlossen: Die „Rückführung“ der rund 320.000 bosnischen Flüchtlinge erfolgt, Punktum, nach einem einmal beschlossenen Zwei-Phasen-Plan.
Für traumatisierte Flüchtlinge regelt dieser Plan lediglich, daß sie – ähnlich wie Deserteure und Kriegsdienstverweigerer – nicht zu denen gehören, die in der ersten Phase Deutschland verlassen sollen. Sofern die Länder keine Sonderregelungen getroffen haben, bedeutet das im Umkehrschluß: Traumatisierte sind Teil der Rückführungsphase zwei, die am 1. Mai beginnt. In der zeitlichen Abfolge sollen sie zumindest an deren Ende rücken.
Als allererste in dieser zweiten Rückführungsphase werden Familien mit minderjährigen Kindern von Abschiebung bedroht sein. Aber auch kinderlose Flüchtlinge, die nicht aus einer der 22 als sicher eingestuften Regionen Bosniens stammen und deshalb bisher Aufschub erhalten hatten, werden gehen müssen. Vorausgesetzt, die Innenminister lassen sich nicht noch eines Besseren belehren, könnten ab 1. Mai auch Flüchtlinge aus dem serbisch beherrschten Teil Bosniens abgeschoben werden – zwar nicht direkt in die Republika Srpska, aber in das bosnisch-kroatische Föderationsgebiet, wo sie sich eine neue Bleibe suchen müßten. Eine Abschiebungspraxis, die genau die ethnische Säuberung zementieren würde, die das Dayton-Abkommen vermeiden wollte.
Seit über einem Jahr sind diese Rückführungspläne der Innenminister heftig umstritten. Doch Bayern und Berlin haben sich bei ihren spektakulären Abschiebungen nicht einmal an die vereinbarten Minimalregelungen gehalten. In Berlin mußte erst das Verwaltungsgericht einen traumatisierten Mann aus dem Flugzeug nach Sarajevo holen, in Bayern wurden schon jetzt Flüchtlinge aus der Republika Srpska abgeschoben. Die anderen Bundesländer schweigen dazu. Auch zu den Nacht-und-Nebel-Aktionen, mit denen ihre Kollegen aus Berlin und Bayern die Flüchtlinge aus dem Schlaf oder von der Arbeitsstelle zur Abschiebung holten, schweigen die übrigen Innenminister. Die Panik, die solche spektakulären Aktionen unter den bosnischen Flüchtlingen verbreitet, kommt offenbar allenthalben recht. Denn auch die Bundesländer, die ihre Flüchtlinge bisher nur mit mehr oder minder starkem psychologischen Druck zur Ausreise drängen, profitieren davon. Angesichts der begrenzten Aufnahmekapazitäten Bosniens sind die Länder offenbar in geheimen Wettlauf geraten: Wer zuletzt abschiebt, so die Sorge, der bleibt auf „seinen“ Flüchtlingen sitzen.Vera Gaserow
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