Ruandische Autorin über ihr Land: „Ethnien spielen keine Rolle mehr“
Scholastique Mukasonga verlor während des Genozids in Ruanda einen Großteil ihrer Familie. Die Autorin spricht über ihre Kindheit und das Ruanda von heute.
taz: Frau Mukasonga, Sie sind in Ruanda aufgewachsen, bevor Sie 1973 mit Ihrer Familie ins Exil nach Burundi vertrieben wurden. Ist die Erinnerung an das Ruanda Ihrer Kindheitsjahre heute von der Erfahrung des Genozids geprägt?
Scholastique Mukasonga: Ich trenne die zwei Geschichten, den Genozid und meine Kindheit. Es sind gewissermaßen zwei getrennte Schubladen. Als kleines Mädchen lebte ich mit meiner Familie in der ruandischen Stadt Nyamata. Die Stadt war schon damals eine Art Sammelstelle, wohin viele Tutsi deportiert wurden. Es gab viel Gewalt, viele Spannungen, und doch war es für mich ein normales Leben mit meiner Familie. In meiner Jugend kam ich auf ein katholisches Internat. Dort habe ich wirklich gelernt, was Diskriminierung bedeutet.
Auch Ihr Roman „Die Heilige Jungfrau vom Nil“ spielt in einem katholischen Mädcheninternat in den 1970er Jahren. Wie darf man sich das Leben einer jungen Tutsi dort zu dieser Zeit vorstellen?
Die Schule wurde als Ort des Wissens, als Bildungsort der späteren Eliten ausgegeben, aber in Wahrheit war es ein Ort der Propaganda. Im Roman gibt es zum Beispiel einen Priester, der nicht den katholischen Glauben unterrichtet, sondern in seinen Reden Hass und Segregation predigt. Es gab überhaupt kein politisches Bewusstsein. Ich habe diese Mischung aus Alltagsleben und schlimmer Diskriminierung damals erlebt. Sogar essen mussten die Mädchen getrennt.
Waren die 1960er und 1970er Jahre in Ruanda also eine Art Brutzeit des Hasses, der später im Genozid gipfelte?
In Nyamata, der Stadt, in der ich mit meiner Familie lebte, wurden die Bedingungen für den Hass und den Genozid geschaffen. Dort wurden die Tutsi erstmals als „Kakerlaken“ bezeichnet, was später eine gängige Bezeichnung wurde. Das erklärt auch, warum die Gewalt so ausarten konnte, warum etwa auch schwangere Frauen gefoltert und getötet wurden. Das kann man nur verstehen, wenn man weiß, dass dem Genozid eine jahrzehntelange Propaganda vorausging. Man hat die eigenen Nachbarn nicht mehr als Menschen betrachtet, sondern als Insekten. Doch der wirkliche Grundstein für den Genozid wurde natürlich noch früher gelegt.
In der Kolonialzeit.
Ja. Die Kolonialgeschichte hat eine wichtige Rolle gespielt, denn die Belgier haben die Spaltung zwischen Hutu und Tutsi ja überhaupt erst geschaffen. Ab 1930 stand in jedem Pass „Hutu“ oder „Tutsi“. Während des Genozids haben die Ausweise für die Organisation der Tötungen eine große Rolle gespielt. Als Schriftstellerin interessieren mich diese Ursachen des Genozids. Deshalb spielt die Kolonialzeit auch in meinem Roman eine große Rolle. Sie war in den 1970er Jahren zwar vorbei, aber wurde fast nahtlos durch die Entwicklungszusammenarbeit ersetzt. Zum Beispiel hat Belgien auch Lehrer nach Ruanda geschickt als Entwicklungshelfer. Sie waren Mittäter der Propaganda, denn sie waren da, hörten alles und haben nicht eingegriffen.
wurde 1956 in Ruanda geboren. Mit ihrer Familie floh sie 1973 ins Exil nach Burundi. Seit 1992 lebt und arbeitet sie in Frankreich. In ihren Erzählungen und ihrem Roman, „Die Heilige Jungfrau vom Nil“ (Wunderhorn Verlag, 2014) verarbeitet sie die Erfahrung des Genozids, bei dem sie 1994 einen Großteil ihrer Familie verlor.
Fühlen Sie sich als Schriftstellerin in der Verantwortung, auf solche Dinge aufmerksam zu machen?
Ich fühle vor allem eine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Ruanda weiterhin existiert. Meine Aufgabe ist es, eine Weise zu finden, das Land wieder aufzubauen, Formen von Versöhnung zu finden. Dabei spielt die Literatur eine sehr wichtige Rolle.
Inwiefern?
Mein Roman ist ein Versuch, auf ein Zusammenleben hinzuarbeiten, indem er die Vergangenheit untersucht. Man muss das Leid in den Zusammenhängen, in denen es passiert ist, betrachten. Die Literatur ist für mich ein Mittel, mir über Dinge klar zu werden, Frieden zu finden. Doch es ist nicht nur eine persönliche Bedeutung: Als ich für meinen Roman den Prix Renaudot bekam, habe ich das nicht nur als Anerkennung für mich, sondern auch für Ruandas Geschichte gesehen. Denn das Buch und sein Erfolg sind auch Belege dafür, dass die Opfer eine Stimme haben dürfen und gehört werden, dass sie weiterleben dürfen.
Welche anderen Formen gibt es heute, sich kreativ mit den Erinnerungen auseinanderzusetzen?
Nach dem Genozid hat man sich darauf konzentriert, den Bezug zu einer gemeinsamen Geschichte wieder herzustellen. Etwa wurde die Flechtkunst als Nationalkunst Ruandas wiederbelebt, als gemeinsames kulturelles Erbe von Hutu und Tutsi. Es geht darum, mit einheimischen Talenten das Land wieder aufzubauen, die Würde der Ruander wieder herzustellen – und das nicht nur mit ausländischer Hilfe.
Früher hat er Opern komponiert, heute entwirft Ingolf Gabold Erfolgsserien wie „Borgen“ oder „The Killing“. Ein Gespräch über richtig gutes Fernsehen und wie man es macht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 1./2. November 2014. Außerdem: Wie eine Abgeordnete und ein Lobbyist um das Waffenrecht in einem US-Bundesstaat ringen. Und: Joschka Fischer im Interview. Am Kiosk, //taz.de/%21p4350%3E%3C/a%3E:eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Kehren Sie heute regelmäßig nach Ruanda zurück?
Seit 2004 fliege ich mindestens einmal pro Jahr nach Ruanda. Ich würde noch öfter fahren, wenn ich könnte. Ruanda ist wieder meine Heimat geworden.
Wie empfinden Sie die Besuche in der Heimat, mit der Sie auch viel Leid verbinden?
Es sind jedes Mal auch gemischte Gefühle dabei. Wenn ich in Kigali lande, fange ich jedes Mal an zu schwitzen. Denn früher, als ich noch in Burundi wohnte, arbeitete mein Mann für die französische Entwicklungszusammenarbeit, und wir mussten einige Male über Ruanda fliegen. Jedes Mal hatte ich damals Angst, im Flugzeug oder am Flughafen ermordet zu werden. Doch dieses Gefühl der Beklemmung verfliegt heutzutage meistens schnell, und dann freue ich mich sehr, wieder zu Hause zu sein, meine Sprache, Kinyarwanda, zu sprechen. Endlich kann ich mit Stolz sagen, dass ich Ruanderin bin.
Besuchen Sie bei Ihren Aufenthalten auch die Orte Ihrer Kindheit?
Ich fahre bei jedem Aufenthalt auch nach Nyamata, wo auch ein Großteil meiner Familie ermordet wurde. Selbst heutzutage ist Nyamata noch die Stadt der Toten, weil es dort nichts mehr gibt, keine Häuser, keine Menschen. Für mich ist es wie eine Pilgerfahrt, ich muss da hin, aber ich muss mich jedes Mal auch zwingen, zu fahren. Oft muss ich erst ein paar Tage Mut sammeln.
Was haben Sie für einen Eindruck von dem Ruanda von heute?
Heutzutage spielt die Unterscheidung der Ethnien keine Rolle mehr. Zwei Millionen Menschen leben in der Hauptstadt Kigali und wissen nicht, ob ihre Freunde Hutu oder Tutsi sind. Anders ist es auf dem Land, wo die alten Strukturen manchmal immer noch eine Rolle spielen. Doch es gibt unter den Überlebenden des Genozids keinen Hass und keine Rachegefühle, ähnlich wie bei den Überlebenden des Holocaust.
Stimmt es, dass Täter, die mit dem Genozid zu tun haben, andere Kleidung tragen müssen als andere Straftäter?
Nein, das bezieht sich nicht auf den Genozid. Alle Angeklagten, die noch nicht verurteilt wurden, sind rosa gekleidet; orange gekleidet sind dagegen die als schuldig verurteilten Menschen. Die Angeklagten, die noch nicht verurteilt sind, sind nicht eingesperrt, sie können und müssen sich und ihre Familien verpflegen. Es stimmt aber, dass es durch den Genozid so viele angeklagte Mörder gibt, dass das Land größte finanzielle und logistische Probleme bekommen würde, würde es alle hinter Gitter sperren. Als ich 2004 das erste Mal wieder nach Ruanda reiste, brachte ich viel Kleidung als Geschenk mit, auch viele rosafarbene T-Shirts. Das war ein großer Fauxpas.
Dieses Jahr hat man sich weltweit an Ruanda 1994 erinnert. Haben Sie das Gefühl, dass der Genozid in der kollektiven globalen Erinnerung angekommen ist?
Definitiv. Als dieses Jahr im April die Erinnerungsfeierlichkeiten in Kigali stattfanden, waren viele wichtige Akteure der internationalen Gemeinschaft da, Tony Blair etwa und Ban Ki Moon, und haben sehr zurückhaltend und betroffen Anteil genommen, ohne dass es eine offizielle Einladung gegeben hätte. Es war wichtig für mich, das wahrzunehmen. Das zeigt schon, dass es das Bewusstsein für eine gemeinsame Verantwortung gibt. Während des Genozids haben sich die Opfer von der Welt im Stich gelassen gefühlt. Das ist heute nicht mehr der Fall.
Dieses Gespräch wurde mit freundlicher Unterstützung des Institut Français geführt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!