piwik no script img

Rote FloraHappy Birthday, altes Haus!

Das besetzte Haus im Hamburger Schanzenviertel entzieht sich seit 25 Jahren der kapitalistischen Verwertungslogik – oder etwa nicht? Ein Geburtstagsgruß.

Ein Bild aus dem Jahr 1988: Hier stand früher der Saal der Roten Flora. Bild: Henning Scholz

HAMBURG taz | Die soziale Praxis des Besetzens ist nach wie vor zeitgemäß und verspricht eine Reihe von Vorteilen im Vergleich zu anderen Formen der politischen Intervention. Das Nutzen von Räumen ohne die Zustimmung der Besitzenden stellt nicht nur die bestimmende Rolle des Eigentums infrage, sondern eröffnet vor allem Räume für andere Formen des Alltags. Es ist durch Momente der Selbstermächtigung geprägt und kann als effektive Form einer sozialen Wohnungspolitik angesehen werden. Jede Besetzung ist ein kleiner Sieg der Gebrauchswerte über den Tauschwert. Sie zeigt uns, dass eine andere Welt möglich ist.

Vieles, was in den Vorgaben des Wohnungsmarktes, der Kulturproduktion und der Stadtentwicklung keinen Platz finden konnte, wurde in den besetzten Häusern erprobt: Die Kollektiverfahrungen des Wohnens in großen Gruppen, die Ansätze einer solidarischen Ökonomie in den Volksküchen und Tauschläden, die von den Bewohner/innen bestimmte Gestaltung der Räume und Fassaden, die Punk-Läden und Techno-Klubs.

Es muss nicht allen gefallen, was sich in den besetzten Häusern entwickelt – allein die Möglichkeit des Experimentierens hat einen gesellschaftlichen Mehrwert. So sehr sich Stadtplaner und Marketingstrategen mit ihren Zwischennutzungsagenturen, Co-Working-Spaces und Beteiligungsformen auch bemühen, diese Bedingungen der Innovation zu simulieren, die Authentizität einer Bewegung ist nicht kopierbar. Dabei ist das Besetzen weniger der Ausdruck einer Lebensstilpräferenz als vielmehr ein Moment der Gegenmacht, in dem die Logik der Verwertung und Kontrolle suspendiert wird.

Ein Akt der Subversion

Der Blick in die Geschichte zeigt: Es ist die Abwesenheit von ökonomischen Verwertungsinteressen und staatlicher Planung, die Formen der Kollektivität, eine andere Ästhetik, eine solidarische Ökonomie und unkonventionelle Lebensmodelle erst ermöglicht. Das Besetzen ist ein Akt der Subversion, das Übertreten einer Grenze, die Überwindung der uns auferlegten Selbstbeschränkung und das kollektive Begehren nach einem anderen Leben. Die Agentur Bilwet hat Anfang der 1990er-Jahre die subjektiven Erfahrungen der Kraaker-Szene in Amsterdam als die Schaffung einer „außermedialen Realität“, als eine „radikale Wirklichkeit im Hier und Jetzt“ beschrieben.

Unter den aktuellen Bedingungen einer zunehmenden Entpolitisierung und Individualisierung gewinnen solche Momente an Bedeutung. Angesichts des Versagens von sozialen Hilfesystemen, der massenhaften Prekarisierung und voranschreitenden Exklusion orientieren sich weltweit die Subalternen, die Marginalisierten und die Unzufriedenen an den Prinzipien der Selbstermächtigung, wie sie auch in den Häuserkämpfen der Vergangenheit typisch waren.

Von Occupy Wallstreet bis zum Gezi-Park-Protest, von Picture the Homeless in New York bis zu den Zwangsräumungsblockaden in Spanien oder auch Berlin – die städtischen Proteste dieser Tage sind immer auch als Selbstbehauptung derer zu verstehen, über die sonst gesprochen, verhandelt und geschrieben wird. Bewegung entsteht nicht, weil kritische Wissenschaftler, wohlmeinende Sozialarbeiter und linke Parteien die Verhältnisse anprangern und gesellschaftliche Veränderungen im Interesse der „Betroffenen“ fordern. Bewegung entsteht auf der Straße, in den Nachbarschaften und allen anderen Orten, in denen sich der Wunsch nach einem besseren Leben in ein kollektives Erleben verwandelt.

Hausbesetzung ist ein Beitrag zur Lösung

Hausbesetzen ist aber auch ein Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage.Vor allem langfristig – das zeigen die Beispiele in Berlin, Hamburg, Frankfurt und Freiburg – bieten die ehemals besetzten Häuser günstige Wohngelegenheiten, selbst in gentrifizierten Nachbarschaften. Gerade im Vergleich zu Instrumenten wie Milieuschutzsatzungen oder Förderprogrammen schneidet die sozial-ökonomische Bilanz langfristig gesicherter Hausbesetzungen besser ab, weil die Verwertungsinteressen nicht nur ausgebremst, sondern tatsächlich aus dem Rennen genommen werden.

Mit der faktischen Enteignung privaten Immobilienbesitzes wird die Logik der Ertragserwartung durch eine Ökonomie der Selbsthilfe ersetzt, die sich ausschließlich an den Bedürfnissen und den realen Kosten orientiert. Das Herauslösen aus der kapitalistischen Verwertungsorientierung weist über die begrenzte Zahl von besetzten Häusern hinaus. Eine Lösung der Wohnungsfrage wird es nur geben, wenn es gelingt, auf der Basis einer marktfernen Bewirtschaftung das Wohnen als soziale Infrastruktur zu organisieren. Hausbesetzungen und die aus ihnen entwickelten Rechtsformen wie das Mietshäusersyndikat können dabei als Orientierung verstanden werden.  

Andrej Holm, 44, Soziologe, forscht an der Humboldt-Universität Berlin über Gentrifizierung, europäische Stadtpolitik und Wohnungspolitik im internationalen Vergleich.

Mehr zum Thema Roten Flora finden Sie in der Wochenendausgabe der taz - an Ihrem Kiosk & am e-Kiosk

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Guter Kommentar. Besonders interessant finde ich die Frage der 'Grenzüberschreitung'. Wer zieht die Grenzen und wozu? Braucht man überhaupt Grenzen? Wann sind Menschen bereit, vorgefundene Grenzen zu überschreiten? Wo machen Grenzen Sinn, wo nicht? All diese Fragen sind heute noch drängender als vor 25 Jahren, sie werden aber nicht ergebnisoffen gestellt, obwohl gerade der Mauerfall dazu vielfach anregen könnte. Stattdessen zerfließt man lieber zwischen Nostalgie, Selbstmitleid und Haßgefühlen und zieht die eigenen Grenzen dabei noch enger.

    • @Rainer B.:

      Dieser Kommentar ist ebenfalls klasse!

  • Abwesenheit von ökonomischen Verwertungsinteressen ermöglicht solidarische Ökonomie !?

     

    Wenn erst ein Haus besetzt werden muss um Tauschläden, Volxsküchen usw. zu etablieren, dann ist das ein äußerst schwaches Bild was da beschrieben wird. Die Tafel-Bewegung bspw. als Pendant zu den Volxküchen schaft dies wesentlich effektiver und ohne Hausbesetzungen.

  • Entzieht sich seit 25 Jahren der kapitalistischen Verwertungslogik?

     

    Wie hoch waren noch mal die Kaufpreise?

  • Die Frage ist letztendlich aber auch wen die Hausbesetzung trifft. Ist der kleine Vermieter, der kein Geld zur Sanierung hat, also seine Immobilie nicht vermietet/verkauft bekommt und letztendlich dadurch einen Leerstand hat oder ist es eine große Bank, die eine Immobilienfirma gegründet hat um gepfändete Immobilien zu vermieten.

     

    Dazwischen gibt es zudem "many shades of grey". Und je wohlhabender der Eigentümer bzw. die Eigentümerin ist, desto höher ist aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass dessen oder deren politische Kontakte eine schnelle Zwangsräumung verursachen.

     

    Banken und Ämter besetzen wäre eigentlich zielführender.