piwik no script img

Rot-Schwarz-Grün in BrandenburgDie Kenia-Kommune

Problem erkennen, Lösung finden. In den Städten ist eine solche Politik längst Usus. Nun soll sie auch der Landesregierung zum Erfolg verhelfen.

Helene Beach Festival in Frankfurt (Oder) Foto: Martin Müller/imago

So etwas ist in Berlin kaum denkbar. Eine Frage aus dem Pu­bli­kum. Wer will antworten, fragt der Moderator? André Schaller (CDU), Ludwig Scheetz (SPD) und Sahra Damus (Grüne) schauen sich an. Keiner drängelt sich vor. Dann reicht Schaller Damus das Mikro. „Wir müssen die Festivals in Brandenburg stärken“, sagt die grüne Kulturpolitikerin aus Frankfurt (Oder), die im September frisch in den Potsdamer Landtag gewählt wurde. „Dafür müssen wir auf Landesebene das Baurecht, das Immissionsrecht und das Waldrecht überprüfen.“

André Schaller nickt. Auch der Bürgermeister von Rüdersdorf ist neu im Landtag. Seine Partei hat Wert darauf gelegt, dass im Koalitionsvertrag Brandenburg als Land der Festivals genannt wird. Zustimmung kommt schließlich auch von Ludwig Scheetz. In Königs Wusterhausen hat der ebenfalls neue Landtagsabgeordnete der SPD das Festival auf dem Funkerberg ins Leben gerufen – und seiner Stadt ein buntes Image verpasst. Außerdem hat er das Direktmandat gegen den AfD-Landesvorsitzenden Andreas Kalbitz geholt.

Nimmt man die Runde, die am Freitag vergangener Woche beim Festival Music Base in Cottbus auf der Bühne saß, als Beispiel für den Umgang von SPD, CDU und Grünen miteinander, muss man festhalten: Kenia könnte harmonischer verlaufen als so manche Konstellation in anderen Bundesländern, die nicht als Zweckbündnis, sondern als Liebesheirat begann.

Keine Räterepublik

Der Weg zur Kenia-Koalition in Brandenburg, unter besonderer Berücksichtigung der grünen Befindlichkeiten

Der Blick ganz lang zurück, zum September 1994: Die zweite Landtagswahl in Brandenburg nach der Wende bedeutet für die Grünen für die nächsten 15 Jahre ein parlamentarisches Aus, und sie beendet sogar für die nächsten 25 Jahre grünes Mitregieren.

2009: Die Grünen kommen wieder in den Landtag, mit 5 von 88 Sitzen.

16. Juni 2019: Eine seriöse Umfrage sieht die Grünen im Hinblick auf die aktuelle Landtagswahl bei 17 Prozent, gleichauf mit der CDU und nur 1 Prozentpunkt hinter der SPD.

1. September: Bei der Auszählung der tatsächlichen Stimmen bei der Landtagswahl fallen die Grünen zwar auf 10,8 Prozent, erreichen damit aber dennoch ein ostdeutsches Rekordergebnis, während die CDU auf ihr brandenburgisches Rekordtief fällt. Ministerpräsident Woidke (SPD) kündigt Sondierungen für Rot-Rot-Grün und ein unter „Kenia“ laufendes rot-schwarz-grünes Bündnis an.

6. September: Einen Tag nach dem ersten Sondierungsgespräch mit SPD und Grünen tritt der CDU-Landes- und Fraktionsvorsitzende Ingo Senftleben nach dauerhafter Kritik aus den eigenen Reihen von beiden Ämtern zurück – er war für eine Koalition mit der Links­partei offen gewesen, um die SPD an der Regierung abzulösen. SPD und Grüne zeigen sich irritiert, Ministerpräsident Woidke warnt vor einer „CDU-Schlachteplatte“. Die Grünen machen eine Zusammenarbeit von den neuen Amtsinhabern abhängig. Jan Redmann und Michael Stübgen, die in den folgenden Tagen gewählt oder kommissarisch eingesetzt werden, genügen offenbar den An­sprüchen der Grünen.

19. September: SPD-Chef Woidke zieht eine Kenia-Koalition, die im Landtag 50 von 88 Sitzen hätte, einem rot-rot-grünen Bündnis mit nur 45 Sitzen vor und setzt das auch im SPD-Vorstand durch. Die Grünen-Spitze hätte lieber mit der Linkspartei statt mit der CDU regiert, akzeptiert aber Woidkes Votum, um nicht Neuwahlen zu riskieren.

21. September: Nach SPD und CDU stimmen auch die Grünen bei einem kleinen Parteitag in Kleinmachnow für rot-schwarz-grüne Koalitionsgespräche – gegen den Widerstand der Grünen Jugend. Deren Haltung: nicht „Kenia“, sondern „Keen ja“.

25. Oktober: Nach gut fünfwöchigen Verhandlungen stellen SPD, CDU und Grüne einen Koalitionsvertrag vor. Fünf von zehn Ministerien plus der Posten des Regierungschefs gehen an die SPD, drei an die CDU und zwei an die Grünen.

Anfang November empfehlen bei einem Grünen-Parteitag in Bernau 81 Prozent der Delegierten ihrer Parteibasis, bei der bis zum 16. November laufenden Urabstimmung eine Kenia-Koalition zu unterstützen. Am 13. November gibt die CDU das Ergebnis ihrer Mitgliederbefragung bekannt: Rund 86 Prozent sind für „Kenia“. Die SPD votiert am 15. November bei einem Sonderparteitag mit 99 Prozent für den Koalitionsvertrag. Am 16. November folgt ein CDU-Parteitag dem Votum der Mitgliederbefragung und stimmt mit 97 Prozent für Rot-Schwarz-Grün. Am 18. November wird bekannt gegeben, dass bei der Grünen-Urabstimmung sich fast 91 Prozent für die rot-schwarz-grüne Koalition ausgesprochen haben.

20. November: Ursula Nonnemacher (Soziales, Gesundheit, Integration, Verbraucherschutz) und Axel Vogel (Landwirtschaft und Umwelt) werden im Landtag als erste bündnisgrüne Minister seit 1994 vereidigt.

Die Köpfe der Koalition

Dietmar Woidke (SPD), Jahrgang 1961, ist seit über sechs Jahren Ministerpräsident von Brandenburg. Er übernahm das Amt, als der langjährige Regierungschef Matthias Platzeck im August 2013 aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat. Zu Hause ist Woidke, studierter Agraringenieur, in Forst in der Lausitz. Bevor er Regierungschef wurde, war Woidke ab 2004 fast durchweg Minister: erst bis 2009 für Ländliche Entwicklung, Umwelt- und Verbraucherschutz, dann ab 2010 für Inneres. Der SPD gehört er seit 1993 an, dem Landtag seit 1994.

Ursula Nonnemacher (Die Grünen), Jahrgang 1957, ist zwar in Wiesbaden geboren, aber nach ihrem in Berlin abgeschlossenen Medizinstudium seit vielen Jahren in Falkensee zu Hause. Dort gehörte sie seit 2003 der Stadtverordnetenversammlung an. Sie kam 2009 in den Landtag und wurde 2017 mit dem heutigen neuen Umweltminister Axel Vogel Co-Vorsitzende der Grünen-Frak­tion. In der Landesregierung leitet sie das Ministe­rium mit dem längsten Namen, zuständig für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz.

Michael Stübgen (CDU), Jahrgang 1959, zu Hause in Finsterwalde, konnte bis Anfang September davon ausgehen, wie in den fast 30 Jahren zuvor Bundestagsabgeordneter zu sein und weiter wie seit 2018 auch Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium. Doch dann trat nach der CDU-Wahlschlappe der bisherige brandenburgische Parteichef zurück: Stübgen sprang ein, führte die Kenia-Koalitions­verhandlungen und ist nun Innenminister. Seine ur­sprüngliche Ausbildung: evangelischer Pfarrer.

Seitdem SPD, CDU und zuletzt auch die Grünen dem Koali­tions­vertrag zugestimmt hatten, war der Weg frei für das erste Kenia-Bündnis in Brandenburg. Am Mittwoch wurde Dietmar Woidke vom neuen Landtag mit 47 Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt. Dass ihm drei Stimmen, vermutlich aus der CDU, fehlten, nahm der SPD-Politiker eher locker. Es gab auch schon Wahlen, bei denen zwei oder drei Wahlgänge nötig waren. In Schleswig-Holstein hat der „Heidemörder“ durch sein Votum 2005 sogar die designierte Ministerpräsidentin Heide Simonis gestürzt.

Sind die drei mutmaßlichen Enthaltungen der CDU nun eine Art Probezeit für Kenia? Oder sind sie eine Bürde für die neue Koalition, deren Ministerinnen und Minister schon in den Startlöchern stehen: fünf für die SPD, drei für die CDU, darunter Inneres und Infrastruktur, und zwei für die Grünen, Umweltschutz und Landwirtschaft sowie Soziales.

Zwei Tage vor der Diskussion in Cottbus fand in Potsdam auf dem Pfingstberg ein Parlamentarischer Abend statt. Organisiert hatte ihn das Städteforum Brandenburg, ein Kommunalverband mit 45 Mitgliedern. Dessen Vorsitzender, der Eberswalder Bürgermeister Friedhelm Boginski, trug den Vertreterinnen und Vertretern der Kenia-Parteien das Anliegen der Städte vor.

So habe der ländliche Raum nur dann eine Chance, wenn die Städte in seiner Mitte zukunftsfähig seien. Dafür wiederum seien die Erreichbarkeit, die Digitalisierung und die Bildungsinfrastruktur entscheidend. Noch wichtiger aber sei es, schnell zu handeln. Gerade die Bürgermeister wissen, dass die Leute Ergebnisse sehen wollen. Kenia muss also liefern.

Aufmerksam lauschten Katrin Lange (SPD), Rainer Genilke (CDU) und Heiner Klemp den Ausführung des Städtevertreters. Als der Grüne Klemp, auch er ein Neuling im Potsdamer Landtag, die Notwendigkeit von Bürgerbeteiligung anmahnte, schließlich müssten die Menschen vor Ort bei den Entscheidungen mitgenommen werden, konterte Genilke süffisant: „Wir wollen hier aber keine Räterepublik gründen.“

Eine Spitze? Eine Warnung? Oder nur eine kleine Überheblichkeit eines erfahrenen Landespolitikers, der nun Staatssekretär im Ministerium für In­fra­struk­tur und Landesplanung wird? Katrin Lange, die neue Finanzministerin, ging gar nicht erst auf das Thema ein, sprach lieber von den Hürden, die es gerade bei den großen Verkehrsprojekten gebe. Aber auch der Grüne Klemp ließ sich nicht provozieren und warb für sein Vorhaben, den ländlichen Raum und den Speckgürtel nicht gegeneinander auszuspielen: „Wenn wir die Städte in der zweiten und dritten Reihe vergessen, erleben die im Speckgürtel nicht nur von Berlin, sondern auch von dort Zuwanderung.“ In Oranienburg, wo Klemp seit zwanzig Jahren Kommunalpolitik macht, gebe es bereits massive „Wachstumsschmerzen“.

Fremdeln an der Basis

Dass Kenia kein Selbstläufer ist, zeigten nicht nur die drei Enthaltungen bei der Woidke-Wahl. Schon vorher war die Stimmung an der CDU-Basis angespannt. Anfang November warben der damals noch kommissarische CDU-Landesvorsitzende Michael Stübgen und CDU-Fraktionschef Jan Redmann bei einer Regionalkonferenz in Oranienburg um Zustimmung für das rot-schwarz-grüne Bündnis. Laut Märkischer Oderzeitung (MOZ) versuchte Stübgen dabei deutlich zu machen, dass es schwer gewesen sei, sich gegen die Grünen durchzusetzen. „In einer Dreierkonstellation sich zusammenzuraufen sei schon etwas Besonderes“, zitierte die Zeitung den CDU-Mann. „Aber mit den Grünen sei das ‚besonders besonders‘.“

In den CDU-Orts- und Kreisverbänden, so war zuletzt immer wieder zu hören, sei der Wunsch groß, dass Stübgen als Innenminister immer wieder mal „klare Kante“ zeige. Dem trug auch Fraktionschef Redmann Rechnung, der laut MOZ versprochen habe, dass die Minister der Koalition viel Beinfreiheit hätten, um sich zu profilieren – auch und gerade in der Innenpolitik.

Was aber, wenn Stübgen gar nicht so kann, wie von ihm erwartet wird? Ist die Innenpolitik, anders als das Wohlfühlthema Festivals, eine Sollbruchstelle der Kenia-Koalition? Nicht unbedingt, meint ein CDU-Vertreter, der bei den Koalitionsverhandlungen zum Thema Sicherheit dabei war. „Die Grünen waren extrem gut vorbereitet“, berichtet er. „Und wenn es mal eine kleine Provokation von unserer Seite gegeben hat, haben sie sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.“ Am Ende, sagt er, „hatte ich sogar den Eindruck, dass wir als CDU noch etwas von der grünen Diskussionskultur lernen können.“

Auch das wieder ein Hinweis darauf, dass neben all den Konflikten, die es bei Kenia gibt, doch auch der Wille da ist, voneinander zu lernen und die Koalition zum Erfolg zu bringen. Ganz so, wie es ein Bürgermeister beim Parlamentarischen Abend in Potsdam gefordert hatte: „Halten Sie durch, und fangen Sie nicht nach zwei Jahren schon wieder an, Wahlkampf zu machen.“

Kommunale Familie

Völlig geräuschlos, das war auch den Beteiligten in Cottbus bewusst, wird ein Zweckbündnis wie Kenia nicht verlaufen, allen Appelle an Geschlossenheit und eine lösungsorientierte Politik zum Trotz. Auch nicht beim Wunsch, dass Brandenburg als Land der Festivals sein buntes und lässiges Gesicht zeigt und künftig nicht nur als Land der Seen, Wälder, Windräder und AfD-Wähler wahrgenommen wird. So fürchtet etwa Franziska Pollin, die Projektleiterin Popularmusikszene im Land Brandenburg, dass ein grüner Umweltminister im Zweifel die Interessen des Naturschutzes über die der Festivalmacher stellen könnte.

Aber auch innerhalb der CDU gab es zuletzt immer wieder Konflikte. Bis zu sechs Mitglieder der 15-köpfigen Fraktion, hieß es, könnten der konservativen Vertreterin der Werte-Union, Saskia Ludwig, folgen. Dabei hat Rot-Schwarz-Grün nur fünf Stimmen Mehrheit im Potsdamer Landtag.

Zumindest Letzteres will CDU-Mann André Schaller nicht gelten lassen. Auch er gehörte zu den sechs Abgeordneten, die bei der ersten Fraktionssitzung eine Neuwahl des Fraktionsvorstands gefordert hatten. Zwar stimmten neun der 15-CDU-Abgeordneten gegen die damit beabsichtige sofortige Abwahl von Fraktionschef Ingo Senftleben. Doch die Botschaft war klar: Nach dem miserablen Wahlergebnis will die Fraktion nicht einfach zum Business as usual übergehen. Kurz darauf legte Senftleben alle Ämter nieder.

Bei dieser Abstimmung ging es nicht um Lagerbildung, versichert Schaller. Auch gehöre nicht jeder der sechs zu den Gegnern der Koalition. Er selbst spüre den Wunsch, dass vor allem die neuen Abgeordneten endlich anfangen wollen, Politik zu machen. „Ich habe keine Sorge, dass die Koalition nicht hält“, sagt Schaller. In Brandenburg sind neben den neuen AfD-Abgeordneten auch in den Kenia-Fraktionen fast die Hälfte Neulinge.

Vielleicht ist das der Unterschied zwischen Brandenburg und Berlin. In Berlin geht es oft mehr um Ideologie und um die eigene bella figura als um das Gemeinsame und gönnen können. In Brandenburg dagegen könnte der Wille, das Land voranzubringen, stärker sein als die jeweiligen Parteiegoismen. Brandenburg als eine große Kommune, in der das Parteibuch ohnehin eine untergeordnete Rolle spielt? In Potsdam jedenfalls war beim Treffen von Kenia mit den Bürgermeistern des Landes erstaunlich oft ein Begriff zu hören: „wir als kommunale Familie“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!