Romanverfilmung „Der Überläufer“: Als Lehrfilm geeignet
Mit dem Zweiteiler gelingt der ARD eine kluge und packende Romanverfilmung. Da verzeiht man sogar kleinere logische Schnitzer.
Wer hätte das gedacht, vor 20 oder 30 Jahren, dass der bereits als altbacken und betulich abgetane Siegfried Lenz noch einmal der wahrscheinlich meistverfilmte deutsche Schriftsteller aller Zeiten werden würde? Dass er es auf seine posthumen Tage noch auf mehr Adaptionen als seine beiden immerhin Nobelpreis-bewehrten Gruppe-47-Kollegen Günter Grass und Heinrich Böll bringen würde? Zusammengerechnet, wohlgemerkt.
Da war es nur eine Frage der Zeit, bis es auch „Der Überläufer“ in der bebilderten Variante geben würde. Der zweite Roman des 2014 verstorbenen Lenz stand schließlich 2016 für ein paar Wochen auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste. Kein Rätsel, sondern ein Coup von Lenz’ Verlag. Und eine Art – sehr späte – Wiedergutmachung. Hoffmann und Campe hatte den Roman 1951 nicht publizieren wollen und Lenz es dabei bewenden lassen. Ein „Überläufer, Deserteur, Verräter, Kameradenschwein“, wie es jetzt in dem Film einmal heißt, war dem Publikum sechs Jahre nach dem verlorenen Krieg nicht zuzumuten. Die Jahre gingen ins Land, Richard von Weizsäcker hielt seine Rede vom 8. Mai 1985, und aus der Niederlage wurde eine Befreiung. Das Land war ein anderes geworden, das Publikum auch.
Es ist also von Anfang an klar, dass der Gefreite Walter Proska desertieren wird, der Titel verrät es. Bis dahin verbringt er in der zweiteiligen Filmfassung rund 90 Minuten mit sechs weiteren Wehrmachtssoldaten (darunter: Rainer Bock, Florian Lukas, Bjarne Mädel, Sebastian Urzendowsky) in sumpfigem Wald und liefert sich Scharmützel mit polnischen Partisanen. Und einer Partisanin: Walter und Wanda, es ist Liebe auf den ersten Blick.
Der Regisseur und Drehbuchautor (zusammen mit Bernd Lange) Florian Gallenberger („John Rabe“) hat die vermeintlich unmögliche Verbindung in einem Interview mit seiner eigenen Familiengeschichte begründet und damit, dass, wer nicht wisse, ob er den nächsten Tag noch erleben würde, die Dinge, die er eben machen wolle, lieber schneller mache als gar nicht. Zur Sicherheit hat Gallenberger die Liebenden außerdem mit zwei ausnehmend attraktiven Darstellern – Jannis Niewöhner („Beat“) und Małgorzata Mikołajczak – besetzt.
Der richtige Ton
Wir wissen zwar nicht, wie die schöne Partisanin zu ihren schmucken Bikinistreifen gekommen sein könnte – aber wenn Walter und Wanda sich ihr Bett im Kornfeld bereiten, haben sich alle Fragen nach der Plausibilität erledigt. Da sorgt es auch nur für eine kurze Irritation, wenn Walter zwischendurch, unwissentlich, versteht sich, Wandas kleinen Bruder erschießt. Wie er später auch noch seinen eigenen Schwager erschießt, wiederum unwissentlich. Da hat er längst die Seiten gewechselt, zu den Russen. „Ist es nicht wahnsinnig, dass du jetzt gegen die Deutschen kämpfst?“, fragt Wanda. Und Walter antwortet mit einer Gegenfrage: „Ist es nicht wahnsinnig, dass du ein Student bist, und plötzlich drückt dir jemand ein Gewehr in die Hand und schickt dich in ein Land, in dem du noch nie warst, damit du dort die Leute totschießt?“
Die Geschichten von Siegfried Lenz sind moralisch und sie haben eine Botschaft, in diesem Fall eine pazifistisch-humanistische. Regisseur Florian Gallenberger trifft, trotz einiger Klischees, den richtigen Ton. Wie wenig selbstverständlich das ist, konnte man erst vor wenigen Wochen an der von der ARD – auch im Umgang mit unserer Nazi-Vergangenheit – vergeigten anderen Literaturverfilmung „Unsere wunderbaren Jahre“ sehen.
Ganz zu schweigen von Philipp Kadelbachs „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013). Der Dreiteiler hatte den polnischen Partisanen Antisemitismus unterstellt und damit in Polen für Ärger gesorgt. Nun hat Gallenberger dem Polish Film Institute keinen Grund gegeben, seine Adaption des Stoffs von Siegfried Lenz nicht fördernd zu begleiten. Sein „Überläufer“ ist angemessen kritisch und kann bedenkenlos als Lehrmittel in jeder achten Schulklasse verwendet werden.
„Der Überläufer“, erster Teil am 8.4., zweiter Teil am 10.4., jeweils 20.15 Uhr, ARD
1998 hat der Bundestag das auch Deserteure rehabilitierende Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile beschlossen, 2009 Urteile wegen „Kriegsverrats“ ohne jede Einzelfallprüfung aufgehoben. Was zu sagen – oder zu schreiben – 1951 nicht opportun war, ist 2020 nichts anderes als sozialadäquat.
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