Roman über Indierockszene in den 90ern: Topos Jungsband

Die Musiker Rasmus Engler und Jan Müller (Tocotronic) haben einen unterhaltsamen Roman geschrieben. „Vorglühen“ spielt in der Indieszene St. Paulis.

Der Basist und Autor Jan Müller.

Kennt sich aus im Alltag junger Menschen: Tocotronic-Bassist Jan Müller Foto: Peter Hartenfelser/imago

Ehe sich die Dinge im Umfeld des Neu-Hamburgers Albert einigermaßen zurechtruckeln, muss ganz schön viel Wasser die Elbe herunterfließen. Albert, Protagonist des Romans „Vorglühen“, kommt Anfang der Neunziger zum Studieren nach Hamburg-Barmbek und stürzt sich kopfüber in die Band- und Alternativszene St. Paulis, wo er kurze Zeit später auch in einer WG landet.

Albert Bremer, wie er mit vollem Namen heißt („Wieso bin ich eigentlich nicht nach Bremen gezogen, das hätte doch besser gepasst“), wird alsbald Gitarrist einer Band, die in der Findungsphase ist (wie auch die Mitglieder Susesch, Claus, Gernot und er selbst in der Findungsphase des Erwachsenenlebens sind).

Dass die Band sich auf keinen Namen einigen kann, ist noch das geringste Problem, wenn der von Gernot provisorisch festgelegte Name „Rundstück Warm“ auch kontrovers diskutiert wird. Eher hakt es hier und da mal im Zwischenmenschlichen. Und dann trifft Albert auch noch auf die rätselhafte Diana, in die er sich im Comicladen verknallt.

Indie, Punk, Hamburger Schule, die Neunziger – davon handelt der Roman „Vorglühen“, den zwei Autoren gemeinsam geschrieben haben, die wissen, wovon sie sprechen: Jan Müller und Rasmus Engler spielen zusammen in der Band mit dem tadellosen Namen Das Bierbeben (die allerdings seit längerer Zeit pausiert), Müller kennt man besser als Bassisten der – in Hamburg gegründeten – Band Tocotronic und neuerdings als Podcaster („Reflektor“). Engler ist zudem Schlagzeuger der Gruppe Herrenmagazin und arbeitet im Club Uebel&Gefährlich in St. Pauli.

„Hirnverbrannt“ und „völlig panne“

Müller und Engler setzen den alternativen Nineties ein Denkmal; und nicht nur für jene, die dabei waren, dürfte das oft amüsant sein. Einliterdosen Faxe werden geleert („‚Faxe, bist du irre?‘, rief Gernot“), im Radio läuft 2 Unlimited, es gibt Mitfahrzentralen statt Uber, es wird mit Telefonkarten telefoniert und Leute sind tatsächlich manchmal einfach nicht erreichbar. Auch die Sprache der Neunziger wird hier lebendig, Leute sind „hirnverbrannt“, „imbezil“, „geistesgestört“ oder schlicht „völlig panne“. In manchen Momenten weht sogar ein Hauch von Sven-Regener-Humor durch diese St.-Pauli-Szenerie, etwa wenn sich die Protagonisten im Proberaum über Belanglosigkeiten austauschen.

Jan Müller und Rasmus Engler: „Vorglühen“. Ullstein, Berlin 2022. 384 Seiten, 21,99 Euro

Es geht dem – gut harmonierenden – Autorenduo weniger darum, die popkulturelle Bedeutung Hamburgs zu würdigen, als vielmehr darum, lebendig zu erzählen, wie der Alltag der jungen Menschen aussah, die damals nach Hamburg zogen. Real existierende Bands werden wenig genannt – Hrubesch Youth kommt an einer Stelle vor, ansonsten darf man sich an überwiegend fiktiven Bands und Bandnamen erfreuen.

Die große Stärke des Buchs ist es dann auch, den sozialen Topos Jungsband bis ins Detail auszuleuchten. Die Konkurrenz zwischen Claus und Albert wird etwa gut beobachtet: Claus ist zunächst Bandleader, ehe Albert ihm den Rang abläuft – eine narzisstische Kränkung, die Claus erst mal verdauen muss.

Vergleichsweise sorglos

Nicht zu unterschätzen sind auch die unterschwelligen politischen Töne in diesem Roman, etwa wenn es um die unverhohlene „Ausländerfeindlichkeit“ (wie man damals gesagt hätte) Anfang der Neunziger geht. Als Albert bei seinem Nebenjob als Paketzusteller neben einer Kollegin sitzt, sagt sie: „‚Für mich ist klar: Nur noch Republikaner bei jeder Wahl. So geht es nicht weiter.‘ Demonstrativ starrte sie die Frauen mit den Kopftüchern an. Albert verließ die Kantine und machte sich auf den Weg zur Sortierrampe.“

Doch fällt im Vergleich zu heute auf, wie vergleichsweise sorglos die junge Generation in politischer Hinsicht war. So ist Albert auch eigentlich ein einigermaßen unpolitischer Typ, an einer Stelle fragt er sich: „Gibt es überhaupt noch Atomwaffen, oder haben sie die alle abgerüstet? Ich bin wirklich schlecht informiert. Vieles ist ja ohnehin nicht herauszufinden. Wer weiß schon, was mit all dem Plutonium aus den Sprengköpfen passiert ist. Geheime Zutat für das superscharfe Pulver vom Pide-Mann? Welche Farbe hat eigentlich Plutonium? Und was ist eigentlich mit Claus? Warum ist der nie hier?“

Dass die 90er einmal eine Projektionsfläche für Sehnsüchte sein könnten, hätte man damals eigentlich nicht gedacht – zumal das Jahrzehnt ja nicht nur eine blühende linke Subkultur hervorbrachte, sondern auch Nationalismus und Naziterror. Dass diese Renaissance aber zum jetzigen Zeitpunkt kommt, überrascht wenig. Zum einen hat es natürlich damit zu tun, dass all die Pop-Protagonisten – ob von Techno, Hamburger Schule, Grunge oder Riot Grrrl – im besten bücherschreibfähigen Alter sind.

Zum anderen sind die 2020er eine Ära von Krisen, die die Generation von Albert Bremer in dieser Größenordnung noch nicht erlebt hat. Auch waren die Moraldebatten nicht annähernd so aufgeladen wie heute. Da kann der 90er-Planet schon mal erste eskapistische Wahl sein.

Jan Müller und Rasmus Engler entfliehen der Gegenwart auf sehr unterhaltsame Art und Weise. Es dauert vielleicht etwas zu lange, bis die Handlung Fahrt aufnimmt, aber Setting, Plot und Figurenzeichnung sitzen. Als kurzweilige Lektüre für Post-Boomer und 90er-Indie-Boys’n’Girls eignet sich „Vorglühen“ auf jeden Fall bestens.

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