Roman „Schönes Neues England“: Großbritannien nach dem Update
In „Schönes Neues England“ entwirft Sam Byers ein Brexit-Szenario. Vor allem erzählt er vom Einfluss großer Tech-Konzerne auf unser Leben.
Noch Mitte der fünfziger Jahre wurden die Gefahren atomarer Strahlung in US-amerikanischen Warnfilmen verharmlost: SchülerInnen wären im Falle eines nuklearen Angriffs sicher, wenn sie nur unter die Tische im Klassenzimmer kriechen: „Duck and Cover“. Selbst nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki war der propagandistische Umgang mit Radioaktivität von Sorglosigkeit geprägt.
Durchaus vergleichbar ist dies heute beim Umgang mit den Auswirkungen von Überwachungstechnologie in den sozialen Medien. Für viele User der digitalen Sphäre verläuft die Informatisierung ihres Alltags gedankenlos. Sie glauben, ihre Online-Präsenz habe nichts mit ihrem Offline-Leben zu tun!
Eine Tatsache, die „Schönes Neues England“ verhandelt, ein dystopischer Roman des britischen Autors Sam Byers. Kaum ein Phänomen der digitalen Lebenswelt, das er ausspart: laxe Passwörter, Online-Shaming, Hysterisierung im Falle von Breaking News.
Ein Außen ohne Netz droht in der nahen Zukunft, in der Byers’ Werk angesiedelt ist, zu verschwinden: „Leben besteht aus Daten … Es ist lediglich ein Informationskluster“, bekundet Bangstrom, ein sogenannter NTK (NeedToKnow), kurz für Strippenzieher, der in der Rangordnung eines Technologiekonzerns weit oben steht.
Bangstrom arbeitet wie alle in der kleinen Stadt „Edmundsbury“, unweit von London gelegen und teils heruntergekommen, darum attraktiv für Investoren, weil man hippe Freelancer ansiedeln kann, die nicht direkt in der Hauptstadt leben möchten. Das geht jedoch zulasten der alten BewohnerInnen, von denen ein verwitweter Rentner namens Darkin exemplarisch als Habenichts (ohne Internetanschluss) in einer Messie-Mietwohnung porträtiert wird.
Toxischer Cocktail
Der Brexit ist bereits Geschichte. Offensichtlich ist er zugunsten der reaktionären Kräfte ausgegangen, wie man an dem tonangebenden populistischen Lokalpolitiker der Partei „England Always“, Hugo Bennington, nachvollziehen kann.
Dieser verkörpert den toxischen Cocktail Allmacht plus Gute-alte-Zeit-Nostalgie: Druck übt Bennington vor allem durch seine Kolumnen in der Zeitung The Record aus, in denen er im Brustton der Überzeugung gegen alles wettert, was tolerant daherkommt: Political Correctness, nicht normative Familienverhältnisse, Einwanderer.
Sam Byers: „Schönes Neues England“. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Tropen Verlag, Stuttgart 2019, 509 Seiten, 24 Euro
Byers zeichnet ihn als zynischen Instinktpolitiker, der den ahnungslosen Darkin in seinen Kolumnen opfert, um ihm das rechtspopulistische Panoptikum vom schwachen Weißen einzuschreiben, der zugunsten der Einwanderer benachteiligt wird. Zu Darkins angeblichen Schutz engagiert er gar eine Schlägertruppe, die den einzigen verbliebenen hilfsbereiten Nachbarn verprügelt.
Dem werden drei Freelancerinnen gegenübergestellt, Jess, Deepa und Trina, die im Umgang mit den elektronischen Lebensaspekten geschickter und vorsichtiger sind als ihre männlichen Kollegen. Auch auf der Seite des Progressiven sieht Byers genau hin und schreibt von der Fragmentarisierung linker Kräfte durch Identitätspolitik.
Overachiever und Opportunist
Comic Relief und beißenden britischen Spott gibt es reichlich: etwa in Form von Benningtons Assistenten Teddy Handler, der „Memo Skin Footwear“ trägt, in Fußform gegossenen Speichel, und ausschließlich fluoreszierende Flüssignahrung („Fibuh“) zu sich nimmt – ein Overachiever, Opportunist und Online-Nickaugust.
Ein bisschen erinnert das Kleinstadt-am-Rande-des-Ausnahmezustands-Szenario an den „Precogs“-Plot, in der „Minority Report“-Geschichte von Philip K. Dick: LeserInnen ahnen, dass es gar so schlimm noch nicht gekommen ist, müssen aber weiterlesen, weil es eines Tages durchaus so kommen könnte. Das macht den Sog von „Schönes Neues England“ aus. Sam Byers hat den Roman 2015/16 verfasst und sich für sein Gesellschaftsszenario gar nicht so sehr in die Zukunft gebeamt, das Brexit-Chaos hatte sich bereits angekündigt.
Fast alle Protagonisten arbeiten im Internet. Dementsprechend wichtig sind ihre Profile in den sozialen Medien. Pausenlos wird gescrollt und gegoogelt, werden Updates vorgenommen, Ereignisse mitgeteilt und Gegner gedemütigt. Die Gräben zwischen Internet und Privatsphäre sind zugeschüttet. Mehr noch, das Privatleben nimmt mehr und mehr virtuellen Charakter an. Misstrauen ist die Leitwährung. Das permanente Standby raubt Spontaneität, Freunde belauern sich, Pärchen kreieren Avatare, um jeweilige Partner auszuspionieren. Dieses Unbehagen stellt Byers in langen, manchmal ermüdenden Dialogen dar. Wobei sich die Geschwätzigkeit aushalten lässt, weil auch viele Einsichten zu finden sind.
Zwang zum Anprangern
In Edmundsbury geht die Angst um. Eine Gruppe namens Griefers droht damit, Chats, Fotos und andere Internetaktivitäten seiner Einwohner offenzulegen. Bennington will das den Linken in die Schuhe schieben. Paranoia wird epidemisch.
Byers folgt in seiner pessimistischen Einschätzung vom erbärmlichen Zustand einer auf Grundrechten und zivilisatorischen Fortschritt beruhenden partizipativen Demokratie unter dem Einfluss großer Technologiekonzerne den Annahmen des Soziologen und Medientheoretikers Nathan Jurgenson. Dieser argumentiert, reales Leben und digitale Profile verschmelzen zunehmend zu einer Augmented Reality, einer erweiterten Wirklichkeit, deren verborgene Hierarchien und Abhängigkeiten noch nicht durchschaut sind.
Der ständige Zwang zum Anprangern, aber auch das Einsickern von technischen Termini in die Privatsphäre und die Klickmonsterisierung von Meinungen sind toll beschrieben und lakonisch übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Byers zeichnet seine Figuren nicht einfach als „gut“ und „böse“, sondern zeigt sie mit all ihren Makeln und ihrem Knowhow. Mehr als nur ein Brexitroman ist „Schönes Neues England“ auch ein Statement zur Social-Media-Allmacht und ihrer Nebenwirkungen.
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