Roman „Primat des Überlebens“: Rückfall mit Folgen
US-Autor Les Edgerton schickt einen eigentlich ehrlich gewordenen Ich-Erzähler in seinem Krimi durch ein Inferno falscher Entscheidungen.
Das genial Perfide an diesem Roman ist, dass man mit Jake durchaus mitfühlen kann. Denn er ist ein sympathischer Ich-Erzähler mit ganz normalen Bedürfnissen, der endlich leben will wie andere Leute auch. Nach einer schweren Kindheit, einer Karriere als Einbrecher und etlichen Jahren Knast hat Jake ein völlig neues Leben begonnen.
Er hat eine Frau, die er liebt und die gerade mit dem gemeinsamen Kind schwanger ist, und einen Job als Friseur, in dem er so erfolgreich ist, dass er plant, sich mit einem eigenen Salon selbstständig zu machen.
Doch da kontaktiert ihn ein alter Bekannter: Mit Walker Joy hat Jake im Knast gesessen, und da er ihm sein Leben verdankt, ist er Walker was schuldig. Außerdem weiß Walker etwas über Jake, das diesen sofort wieder ins Gefängnis bringen könnte – und diesmal womöglich lebenslänglich. Also lässt er sich widerwillig auf den Plan ein, für einen örtlichen Hehler gemeinsam einen Diamantenhändler auszurauben.
Sehr noir, absurd und blutig
Natürlich wissen wir von Beginn an – anders als Jake –, dass das Ganze übel nach hinten losgehen wird; so sind die Genreregeln. Dennoch ist die finstere Konsequenz, mit der Les Edgerton seinen Protagonisten ins Verderben stürzt, atemberaubend – wobei Jake noch in den übelsten Szenen seine lakonische Erzählhaltung nie aufgibt. Es ist wie in „Fargo“, aber anders: sehr noir, absurd und blutig, aber ohne den gleichzeitigen Willen zur Komik.
Und das, obwohl sich die seltsamen Zufälle nur so häufen: Permanent tauchen irgendwelche Leute in Momenten auf, die nicht ungünstiger sein könnten, angefangen bei der Buchhalterin des Diamantenhändlers, die ein paar Überstunden leisten will und dabei überraschend auf die Einbrecher trifft, die zunächst nicht wissen, was sie mit ihr machen sollen. Dabei ist eigentlich glasklar: Die Dame ist Zeugin ihres Verbrechens geworden; sie muss verschwinden.
Jake, von dem alle, auch er selbst, wissen, dass er „kein Killer“ ist, sperrt sich lange gegen diese Einsicht und überlässt nur widerwillig seinem Kumpan die Initiative im Entscheidungsprozess. Und dann überschlagen sich die Ereignisse: Jakes kleiner Bruder wird unschuldig verhaftet, seine Frau entdeckt sein unfreiwilliges Nebengeschäft, und noch eine weitere Person taucht just an jenem Ort auf, an dem Jake und Walker gerade eine Leiche verschwinden lassen wollen.
Quasigöttliche Instanz im Hintergrund
Eigentlich kann es so viel Pech, wie sich hier auf Jakes Kopf häuft, gar nicht auf einmal geben. Es ist fast so, als führe im Hintergrund eine schicksalswaltende, quasigöttliche Instanz Regie, die strafend Blitze schleudert gegen den rückfälligen Delinquenten. Man könnte diese Instanz auch den „Autor“ nennen. Les Edgerton, der im vorigen Jahr verstarb, hat, wie die biografischen Angaben im Buch verraten, mit seinem Protagonisten einiges gemeinsam – saß sogar im selben berüchtigten Gefängnis ein wie dieser, bevor er eine ehrbare Laufbahn als Literat einschlug.
Les Edgerton: „Primat des Überlebens“. Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2024, 270 Seiten, 16 Euro
Zweifellos sind die bitteren Erfahrungen aus der weniger ehrenhaften Zeit davor in diesen und in andere von Edgertons Romanen eingeflossen. Er dürfte sich damit einige Dämonen vom Leib geschrieben haben. Mit Jakes Geschichte entwarf er somit gleichsam auch ein Alternativ-Schicksal für sich selbst; eines, wie es seinen Lauf nehmen kann, wenn man einmal wissentlich den verkehrten Weg einschlägt und dann ein moralischer Damm nach dem anderen bricht. Wer weiß, vielleicht hat die Edgerton-Lektüre ja dem ein oder anderen Ex-Kriminellen schon dabei geholfen, auf dem Pfad der Tugend zu bleiben.
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