Roma in Berlin: Sie leben im „Părăseală“

In einem Abbruchhaus in einem Berliner Stadtteil wohnen Bogdan, Puiu und ihre Verwandten. Sie nennen diesen Ort: Verlassenheit. Ein Besuch.

Gekocht wird auf einem kleinen Gasherd. Zwei der BewohnerInnen des Hauses. Bild: Miguel Lopes

BERLIN taz | Einhundert, zweihundert, dreihundert. Es sollen vierhundert Euro mit Western Union von Berlin nach Rumänien geschickt werden. Der Schwager von Bogdan zählt die kleinen Münzen noch einmal. Wieder sind es nur 380. Nicht genug. „Ich komme, um eine Arbeit gut zu machen, und nichts kommt zustande“, sagt der Schwager. Zu Hause, als er das Geld zählte, waren es 400. Die Dame von Western Union fragt auf Deutsch nach dem Wohnsitz für das Formular. Bogdan fragt auf Spanisch: „De aquí o de Rumania?“ „Von hier“, antwortet die Dame auf Deutsch.

Bogdan kann gut Spanisch. Sieben Jahre hat er in Spanien gelebt – in Málaga, Granada, Madrid, Palma de Mallorca. Feldarbeit hat er gemacht, Kartoffeln, Knoblauch, Trauben, Oliven geerntet. Seit zwei Jahren pendelt er zwischen Rumänien und Deutschland. Dieses Mal will er bleiben und Deutsch lernen.

Auch der Schwager spricht kein Deutsch. Er trägt eine Mütze und eine zu enge blaue Jacke, was ihn klein und dick aussehen lässt. Bogdan dagegen ist schlank und gut gekleidet. Seine Sportschuhe sind neu. Beide Männer riechen nach Schweiß. In Bogdans Tasche steckt die Obdachlosenzeitung Straßenfeger.

Kein Strom, kein Wasser

Zusammen mit anderen Verwandten leben die zwei auf einem Gelände in Berlin, das sie „Părăseală“ – Verlassenheit nennen. Es ist ein leerstehendes Haus. Durch ein Loch in der Wand zwängen sie sich hinein, denn Haustür und Fenster sind zugemauert. Der graffitibeschmierte Flur ist lang und dunkel. Bogdan geht mit der Taschenlampe voran. In drei Zimmern leben 30 Personen. Ohne Strom, ohne Wasser. Kerzen sind die einzige Beleuchtung. Eine Packung kostet zwei Euro und reicht für zwei Tage. Mit einer Gasflaschenheizung heizen sie. Es ist warm, doch der Zigarettenrauch und der Geruch nach gekochtem Essen machen die Luft beißend und stickig. „Hier ist es nicht wie in der Wohnung“, sagt Puiu, ein Freund von Bogdan, der auch da wohnt. „Wirf die Kippe auf den Boden. Claudia fegt. Sonst hat sie nichts zu tun.“ Claudia lächelt, lässt die Lider sinken.

Puiu hat das Haus gefunden. „Wenn die Polizei uns vertreibt, weiß ich ein anderes“, sagt er. Einmal wurden sie geräumt, aber Puiu, Bogdan und ihre Verwanden sind zurück. Sie sind jetzt vorsichtiger, gehen um 5 Uhr morgens weg und kommen erst nach Sonnenuntergang wieder.

Bogdan gefällt das Haus nicht. „Es ist, als stiege ich in ein Grab“, sagt er. Manchmal wacht er nachts auf, geht raus in die Kälte und bleibt wach, bis er zum „Mercator“ – dem Supermarkt – geht und davor Obdachlosenzeitungen verkauft.

In der Nähe des Abbruchhauses ist eine Musikschule. Manchmal ist spätabends ein Schlagzeug zu hören. Das nervt Puiu, der seit drei Jahren mit Frau und Kind in Berlin lebt. Bogdan versucht ihm zu erklären, dass diese Schule für „die Opera“ sei. Bogdan glaubt, dass die Menschen in Deutschland Opera lieben. Er höre sich auch Opera an, um einschlafen zu können.

An einem Sonnabend ist Puiu sehr aufgeregt. Seine Schwester, ganz neu in Berlin, wurde festgenommen. Sie soll bei Kaiser’s gestohlen haben. Bogdan hilft ihm bei der Suche. Sie halten einen Polizisten auf der Straße an. Die Frau? Wo? – „Ich hab nichts gestohlen“, sagt sie, nachdem sie wieder freigelassen wurde.

Am nächsten Tag ein neues Problem: Bogdan will mit einem seiner vielen Schwäger zum Arzt. Er zieht sich schwarz lackierte Schuhe an, schwarze Hosen und die Jacke, die er immer trägt. Er hat gehört, dass man ohne Versicherung zum Arzt gehen kann. Er hat auch gehört, dass hier Zähne kostenlos implantiert werden. Er will die Schneidezähne seiner mittleren Schwester machen lassen. Sie hat nämlich keine mehr. Sie heißt Garoafa – Nelke.

Kein Paradies

Sein Schwager hat aber eine Versicherung. Dessen Frau, Violeta, hat die ganze Familie beim „jomsent“ – Jobcenter? – mithilfe der Romaberatungsstelle Amaro Foro e. V., wo sie putzen geht, anmelden können. Sie haben vier Kinder: drei Töchter und einen Sohn. Die Töchter besuchen die Schule. Der 17-jährige Sohn ist zu alt dafür. Er kann nicht lesen und schreiben. Über diese Familie hat „Ali“, ein „Nemţoici“ – ein Deutscher – berichtet, als sie letztes Jahr mit anderen Roma ein Haus in Berlin-Charlottenburg besetzten.

Dieser „Nemţoici“ kam jeden Tag mit Geld, mal 30, mal 50 Euro, und hat Fotos von ihnen beim Abendessen veröffentlicht. Violeta hat eins einschweißen lassen und auf ein Regal gestellt. Denn dieser Bericht habe ihnen viel geholfen, sagt sie. Auch wollte jemand einen Film über sie und ihre Verwandten in Rumänien drehen. Tarzan, Bogdans Bruder, hat aber zu viel Geld verlangt; er dachte, man wird mit dem Film Millionen Euro verdienen.

Bogdan hat drei Brüder und fünf Schwestern. Einer der Brüder wurde als Baby einer kinderlosen Romafrau gegeben. Der andere ist mit 28 an Lungenentzündung gestorben. Eine der Schwestern wohnt in Spanien, eine in Bukarest und drei sind in Deutschland. Als Bogdan 14 Jahre alt war, starb sein Vater.

Bogdan, heute 28 Jahre alt, mit tiefschwarzen Augen und buschigen Augenbrauen, hat ein dreijähriges Kind. Es ist in Caracal in Rumäniens bei der Mutter. Sehr jung hat er eine rumänische Frau geheiratet. „Ich habe sie mehr als meine Eltern geliebt, mehr als meinen Sohn, ich habe sie über alle Maßen geliebt“, sagt Bogdan. Aber Bogdans Mutter wollte die Frau nicht, weil sie Rumänin ist, und die Mutter der Frau wollte Bogdan nicht, weil er Rom ist. Es ging nicht gut. Einmal in der Woche, so hat es das Gericht entschieden, dürfte er das Kind besuche – wenn er dort wäre. Trotzdem: Der Sohn verleihe seinem Leben Sinn. Als sein Sohn krank war, hat er Gott versprochen, jedes Jahr ein Lamm zu schlachten. Er will es auch in Deutschland tun, weiß aber nicht genau wie.

Von allen Geschwistern ging nur Bogdan zur Schule. Zehn Klassen hat er absolviert und wurde Schweißer. Aber in dem Beruf verdiente er nur 800 Lei – 160 Euro. Lieber handelte er mit Kühen. Er ging von Dorf zu Dorf und kaufte Kühe, um sie zu besseren Preisen in der Nähe von Bukarest zu verkaufen. Das Geschäft läuft inzwischen nicht mehr gut.

Er habe immer Glück gehabt, glaubt Bogdan. Nur in der Liebe nicht. „So wie ich jetzt dastehe, ist mir egal, welche Nationalität die Frau hat“, sagt er. Obwohl er Romafrauen unmodern findet. „Diese langen Röcke, mit denen sie die Straßen fegen, mag ich nicht.“ Auch nicht, wenn sie ihre Haare bedecken. Er mag ihr Verhalten nicht. Er weiß nicht, wie er es weiter erklären soll. Aber er gibt zu, dass die Romafrauen die Familienlast tragen. Und die Schuld – die ihnen die Romamänner aufbürden. Das mag er auch nicht an den Roma.

Derzeit hat er Bianca, eine Romafrau aus Rumänien, die er in Berlin kennengelernt hat. Sie trägt Hosen und kurze Röcke. Das gefällt ihm. „Diese Liebe ist kompliziert“, sagt Bogdan. Sie ist verheiratet. Sie ist 18 Jahre alt und hat eine Tochter. Er muss vorsichtig sein. „Ich habe mit ihr nichts gemacht. Wenn es nach ihr ginge, würden wir sofort was machen. Sie hat keine Angst. Aber ich. Ich kann dadurch viel verlieren: Geld, Familie. Bei uns Zigeunern muss sie erst zu ihren Eltern gehen, die sie von ihrer jetzigen Ehe befreien können. Das gilt als Scheidung.“ Bis dahin telefoniert er täglich mit ihr, sie trinken mal zusammen Kaffee, aber bis sie frei ist, darf mehr nicht passieren, sagt Bogdan. Er sei nicht verliebt. Aber er will wieder heiraten.

Sparen für ein Busticket nach Rumänien

Vor ein paar Tagen hat er Geld nach Rumänien geschickt: 600 Euro. Er will das Haus seiner Mutter erweitern. Ein Salon soll da noch hinein. Das Haus sei keine Villa mit Blechdach; diese seien übrigens außer Mode, sagt er. Es ist ein altes, bescheidenes Haus.

Jetzt muss er aber Geld für die Rückkehr Biancas nach Rumänien beiseitelegen. Er geht zur Landsberger Allee, wo das Büro der Obdachlosenzeitung ist, und kauft fünf Zeitungen. Weil die meisten Leute nur Geld geben, ohne die Zeitung zu nehmen, reicht das. Dann geht er zur Frankfurter Allee. Es ist kalt.

Vor dem Supermarkt steht er jetzt. Er erzählt von einer Frau, die ihm kurz vor Silvester in einem Umschlag 320 Euro schenkte. Auch erzählt er von einem alten Mann, der ihm jeden Tag 50 Cent gibt. „Jeden Tag.“ An guten Tagen macht er 80 Euro, an schlechten 20. Und Bogdan erzählt noch von den Roma, die im Ausland betteln und miserabel aussehen und in Rumänien dicke Portemonnaies rumtragen.

Seine Schwester Garoafa nennt, was er tut, auch betteln. Bogdan schämt sich ein wenig. „Das ist das erste Ausland, wo ich betteln muss“, sagt er. Nach zweieinhalb Tagen hat er 150 Euro zusammen, das Geld für Biancas Busticket nach Rumänien.

Bogdan hat jetzt nur noch zehn Cent in der Tasche. Es ist Sonntag und er ist bei seiner Schwester Violeta eingeladen, die in einer Dreizimmerwohnung im Berliner Wedding lebt. Mindestens 30 Menschen sind da. Auf dem Sofa, am Fenster, und auf den Sesseln sitzen die Männer. Auf den beiden Seiten reihen sich die Frauen bis zur Tür. Ab und zu tanzen sie. Von den Männern tanzt nur Bogdan. Er trinkt Bier, er raucht und tanzt. Mit gesenktem Kopf schaut er auf seine Schritte, auf seine schwarz lackierten Schuhe. Dann hebt er den Kopf, streckt die Arme auseinander, dreht sich. Und lacht.

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