Rockband Erregung Öffentlicher Erregung: Apokalypse now
Die Band Erregung Öffentlicher Erregung umarmt mit ihrem neuen Album Trash und Zukunftsangst. Dabei geht es um veganes Chili, Pommes und Eiscreme.
Sie flüstert, sie schreit, sie dehnt die Silben. Ihre Stimme überschlägt sich und hallt nach. Wenn Anja Kasten bei ihrer Band Erregung Öffentlicher Erregung am Mikrofon steht, klingeln die Ohren. Aber nicht nur wegen der schieren Energie, die in dieser Stimme liegt.
Anja Kasten ist auch eine der klügsten, deutschen singenden Texterinnen. „Ich hab keine Hände, ich hab Pfoten / Meine Haare fallen alle alle aus“, singt sie etwa in „Meine Haare“ und reimt: „Ich hab keine Locken, ich hab Knoten / Mein Lebenslauf sieht scheiße aus.“
Die Ohren klingeln aber auch wegen eines Vergleichs, dem Anja Kasten in ihrem Song „Top Jeff“ dieses Mal zuvorkommt: „Dein Bohnen-Chili ist phänomenaaal“, singt sie und zieht die letzte Silbe lang. Spätestens in der nächsten Zeile, wenn es heißt „Dein veganes Curry macht mich so sentimentaaal“, hört man Annette Humpe, die in der Westberliner NdW-Band Ideal diese beiden Adjektive für immer aneinanderband.
Anja Kasten singt nun, 40 Jahre später, bei der Post-Punk-Band Erregung Öffentlicher Erregung, die seit gut zehn Jahren zusammen musikalische Sinnsuche betreibt. Erst mit einigen selbst im Proberaum produzierten EPs, 2020 folgte das erste Studioalbum „EÖE“. Die Bandmitglieder leben zu gleichen Teilen in Hamburg und Berlin, ihre Songs komponieren sie online: Skizzen und Ideen werden in die Cloud geladen, die dann von den anderen jeweils weiterentwickelt und ausarrangiert werden. Die Band verhandelt das Zwischenmenschliche und Gesellschaftliche gleichermaßen, meist anhand von etwas anderem, Alltäglichem.
Skizzen in der Cloud
Erregung Öffentlicher Erregung: „Speisekammer des Weltendes“ (Schlappvogel Records/The Orchard)
Live: 15. 9., Düsseldorf, Ratinger Hof, 16. 9., Leipzig, Conne Island, 19. 9., Wiesbaden, Schlachthof, 20. 9., Stuttgart, Merlin, 21. 9., München, Milla
Ihr nun erscheinendes zweites Album, „Speisekammer des Weltendes“, erforscht die Nahrungsaufnahme. Es geht um Pommes, Eiscreme, Spitzenköche und veganes Chili. „Mein Kopf ist voll mit süßen Teilen, nicht mit Drogen, sondern Teig“, singt Kasten da etwa.
Im Interview erklärt Kasten: „Kochen, also Essen aus verschiedenen Zutaten zu erschaffen, ist eine der größten kulturellen Errungenschaften der Menschheit. Es ist immer wieder abgefahren, wie Sachen entstanden sind. Brot zum Beispiel – wie hat man das Rezept herausgefunden? Man muss erst dieses Körnchen zermahlen und dann muss Wasser dazu. Und dann muss dieses Zeug erst mal noch ewig stehen.“
Nüchtern und lakonisch
Kastens geniale Nüchternheit und lakonische Attitüde verhindern dabei, dass es im heiklen Metaphernfeld „Essen“ etwas zu bekömmlich wird – oder wie Kasten selbst sagt: „zu cheesy“. Angst davor hatte sie etwa im Song „Heiße Liebe, sanfter Engel“, einem Liebeslied an das gleichnamige Mischgetränk aus Orangensaft und Vanilleeis beziehungsweise an eine andere Person: „Ich mag es, an dir zu lecken, doch wenn du wegläufst, mag ich das nicht“, intoniert sie darin doppeldeutig auf melodiöse Gitarren, Synthesizer und einen latent motorischen Rhythmus.
Der Sound ihrer Band klingt auf dem neuen Album ausdifferenzierter, von ihrer DiY-Vergangenheit haben sie sich aber trotzdem nicht verabschiedet. „‚Heiße Liebe, sanfter Engel‘ basiert auf fünf bis sieben ganz schrottig aufgenommenen Gitarren“, verrät Bassist Laurens Bauer. „Die sind da so dringeblieben, weil es keinen Sinn gemacht hätte, die noch mal neu und gut aufzunehmen. Das ist auch ein bisschen die musikalische Essenz, dass wir das Momenthafte, Spontane, manchmal auch Trashige umarmen.“
Die Musik von „Speisekammer des Weltendes“ ist tatsächlich in einer anderen Herangehensweise entstanden. Denn die Band hat die Stücke nicht live eingespielt, sondern mit Produzent Olaf Opal im Studio viele Spuren übereinander gelegt. Zu hören ist das unter anderem in einem ausgeprägten Synthesizer-Einsatz und ab und zu einer verspielten Drum-Machine, wie sie etwa den Track „Viele Pommes“ eröffnet.
Immer diese Rollenspiele
Doch nicht ausschließlich im Speisen finden EÖE Inspiration. Während digitale Spieleästhetik die Band schon länger begleitet, sitzen sie jetzt auch gemeinsam am analogen Spieltisch. Der Track „Jenga“ eröffnet das Album, „Schwarzes Auge“ nimmt Bezug auf das gleichnamige Offline-Fantasy-Rollenspiel, mit unendlich vielen Spieleszenarien, tausendseitigen Würfeln und vielen Bänden Spielanleitung.
Doch blickt die Band darin auch auf die weniger nerdige Vertreter der Brettspiele: „Wenn ich auf dein Feld komm, schmeiß ich dich raus / Und wenn du mich rausschmeißt, dann raste ich aus / Und wenn ich frei parken tu, dann mach ich nix / Und wenn ich ins Gefängnis geh, krieg ich kein Geld.“
So ist „Speisekammer des Weltendes“ Musik übers Zusammenleben, teilweise dystopisch, teilweise hoffnungsvoll. Der Albumtitel inkludiert all das: „So eine Speisekammer finde ich was ganz Tolles, wenn die voll ist, vollgepackt mit Leckereien. Und dann ist aber auch manchmal irgendwas drin, was schon abgelaufen ist. Wie geht man damit um? Isst man es noch oder wirft man es weg?“, fragt Kasten.
Wie lange reicht der Vorrat?
Und Bassist Bauer ergänzt: „Jede Speisekammer hat auch etwas Endliches. Aber vielleicht auch was Zuversichtliches, weil es ja noch eine Zeit lang reichen wird. Da entsteht eine Spannung in ‚Speisekammer des Weltendes‘. Reicht es vielleicht auch darüber hinaus?“
Bauer und Kasten gehören mit ihren Bandkollegen zu einer Generation, in der das Ende der Welt tatsächlich vorstellbar und also zur alltäglichen Bedrohung geworden ist. Auch ihr Album ist geprägt von der Situation, dass die Apokalypse keine Science-Fiction-Vorstellung mehr ist, wie Kasten erklärt.
„Davon, dass es dafür keine Strategien gibt. Und was das mit einem macht: Einerseits sehr viel, aber zugleich überraschend wenig.“ EÖE haben keine Lösung, keine Antworten für die pressierenden Fragen, aber sie haben „eine neue Platte draußen“, wie sie selbst singen.
Dass so etwas Banales in den alltäglichen Katastrophen nicht untergeht, ist zu hoffen, denn was Erregung Öffentlicher Erregung ins Albumformat pressen, ist ganz große Kunst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich