„Ring“-Inszenierung in Bayreuth: Vom Knatsch begüterter Familien
Regisseur Valentin Schwarz zeigt in Bayreuth Wagners „Ring“ als toxische Familiensaga. Dabei deutet er Figuren und ihre Beziehungen neu. Geht das gut?
Es ist Halbzeit im Bayreuther „Ring“, aber schon jetzt scheint gewiss, dass der junge österreichische Regisseur Valentin Schwarz die Wagnerianer gegen sich aufbringen wird wie lange kein Regisseur mehr, der sich auf dem Grünen Hügel an Wagners Tetralogie versuchte. Denn seine Regiearbeit passt in keines der üblichen Feindbilder der Traditionalisten, sie provoziert nicht mit Trash, sondern mit irritierenden Um- und Neudeutungen der Figurenkonstellationen, zusätzlichem Personal und verwirrenden Weiterdrehungen der dramaturgischen Stellschrauben. Manches wirkt mutwillig, manches aber sehr bedenkenswert.
In Bayreuth ist es Tradition, dass von Neuproduktionen kein Detail im Vorfeld bekannt gegeben wird, jede Premiere ist quasi ein Staatsgeheimnis. Vom neuen „Ring“ aber sickerte im Vorfeld schon durch, dass Valentin Schwarz den „Ring“ als eine Art mythische Netflix-Serie versteht, was natürlich allenthalben für pikiertes Stirnrunzeln sorgte.
Bei „Rheingold“ öffnet sich der Vorhang bereits im Vorspiel. Eine riesige Videowand zeigt kräuselnde Wasserwellen, dann sind zwei wulstige Stränge zu sehen. Es sind Nabelschnüre, die im Mutterleib Zwillinge ernähren. Einer wird plötzlich aggressiv, verletzt den anderen am Auge, es fließt Blut. Ein böses Vorspiel.
Dann öffnet sich die Bühne mit Blick auf eine sanft gewellte Landschaft, davor planschen im knöcheltiefen Pool die Rheintöchter, und eine Schar lachender Kinder vergnügt sich mit Wasserbällen. Alberich tritt auf, mit Jeans, Lederjacke und einer Wumme. Er stiftet Unruhe, wanzt sich grob ans Personal heran, wird verhöhnt und greift sich einen Jungen mit gelbem T-Shirt und Basecap, entführt ihn, niemand hindert ihn daran. Der Goldschatz des Rheins kommt nicht vor, geraubt wird also hier ein Kind. Denn es wird im „Ring“ diesmal nicht um Gold und Götter, sondern um das Fortleben und die Macht eines Clans mit mafiösen Strukturen gehen. Klingt banal, ist aber gar nicht so weit weg von Wagner.
Systemsprenger im Kinderhort
Das zweite Bild zeigt das gediegene Atrium von Wotans Anwesen mit Holzvertäfelung und Designklassikern (Bühne: Andrea Cozzi), Wotan tritt auf im lässigen Golf-Dress und die Riesen Fasolt und Fafner fahren im klobigen SUV in die angeschlossene Garage. Loge tritt auf als alerter, tuntiger Familienanwalt, das familiäre Konfliktgeschehen um Wotans Untreue, die Finanzierung der Immobilie (Walhall) und das Tauschgeschäft mit Freia inszeniert der Regisseur detailreich und versiert als heutigen Knatsch schwer begüterter Familien.
Dann geht es hinab nach Nibelheim, wo Wagners wummernde Ambosse einer kapitalismuskritischen Sicht auf den „Ring“ reiche Möglichkeiten bieten, Unterdrückung und Ausbeutung zu bebildern. Hier aber ist Nibelheim ein bonbonfarbener Kinderhort, in dem eine Schar Mädchen seltsame Bildchen malen. Störenfried ist der gelbe Junge, der inzwischen Alberich entrissen wurde und nun im Hort als Systemsprenger wütet und bei Wagner gar nicht vorkommt.
Langsam wird klar: der gelbe Junge ist niemand anderes als Hagen, Sohn des gedemütigten Alberich, dessen Zukunft als späterer Siegfried-Mörder durch seine traumatisierende Kindheit vorbestimmt ist. Und die Kinderhort-Mädchen sind wohl die späteren Walküren. Und die Zwillinge im Mutterleib? Die sind eine freche Erfindung des Regisseurs, der Wotan (mit dem verletzten Auge) und Alberich kurzerhand zu bitter verfeindeten Zwillingsbrüdern macht. Steht so alles so nicht bei Wagner. Passt aber in Schwarz’ Konzept, den „Ring“ auch als Geschichte instrumentalisierter Kinder zu erzählen.
Kurzfristiges Engagement
Das aber ist so neu nicht. Denn bereits vor fünf Jahren inszenierte Tatjana Gürbaca am Theater an der Wien eine aufregende „Ring“-Dekonstruktion, die Wagners Tetralogie aus der Sicht der Nebenrollen erzählte. Der erste Abend hieß „Hagen“, und auch sie leitete dessen Entwicklung zum brutalen Finsterling aus seiner traumatisierenden Jugend her. Die grandiose Wiener Produktion ließ damals Bayreuth aufmerken, Gürbaca wurde als Regisseurin für den neuen „Ring“ verpflichtet. Doch dazu sollte es nicht kommen, da man sich nicht auf die adäquaten Probenzeiten einigen konnte. Eilig zog Katharina Wagner als Ersatz für den gefährlich späten Abgang Gürbacas den bis dahin kaum bekannten Valentin Schwarz aus der Tasche.
Im „Rheingold“ wirkt vieles noch holprig, doch das Personal ist in lebhafter Interaktion, es gibt keine Langeweile. Das gilt auch für die musikalische Seite des Abends, die ebenfalls mit einem Spät-Einspringer leben muss: Der vorgesehene Pietari Inkinen erkrankte an Corona, Cornelius Meister sprang ein, der eigentlich den „Tristan“ dirigieren sollte, nun aber den gesamten „Ring“ übernimmt. Meister beginnt im Vorspiel gedämpft, findet sich dann aber und dirigiert flüssig, pointenreich und so differenziert, wie es in kürzester Probenzeit unter den besonderen Bayreuther Bedingungen möglich ist.
Die sängerischen Leistungen sind auf solidem Niveau, brillant Daniel Kirchs Loge, herausragend und Ovationen erntend Olafur Sigurdarsons Alberich, ebenso Okka von der Dameraus Wohlklang verströmende Erda. Erregte Reaktionen schon beim ersten Schlussapplaus: In Bravi und Getrampel mischt sich auch ein wütendes Buhkonzert für unterlaufene Erwartungen durch die Regie.
Der zweite Abend „Die Walküre“ zeigt am Beginn Hundings Hütte als Wachmann-Wohnung, es wütet ein Gewitter, eine gewaltige Esche ist auf die Behausung gestürzt, Siegmund sucht im Haus Schutz. Die Begegnung des Zwillingspaars Siegmund und Sieglinde inszeniert Schwarz als zunächst zögerliches Tasten, Sieglinde läuft beschwerlich, sie ist hochschwanger, aber von wem?
Requisiten Pech
Also gibt es hier endlich keinen Geschwister-Inzest, sondern nur ein beglücktes Wiederfinden. Im zweiten Akt sitzt eine kreischige Großfamilie im Bling-Bling-Chic um Freias weißen Sarg. Wotan ist diesmal Tomasz Konieczny, der sich Sieglinde kurz vor der Geburt noch in lüsterner Weise nähert, so dass klar wird, dass tatsächlich er der Vater des kurz danach geborenen Siegfrieds ist, der Vater also die Tochter missbrauchte.
Vor dieser besonders fiesen Abweichung von Wagner aber ist Konieczny unfreiwillig mit einem nachgebauten Eames Lounge Chair auf der Bühne eingebrochen, singt tapfer weiter, erschießt noch selbst – nicht wie bei Wagner Hunding! – Siegmund, wird aber dann im dritten Akt von Michael Kupfer-Radecky, der eigentlich als Gunther eingeplant war, ersetzt.
Der dritte Akt spielt zunächst in einer Beauty-Klinik, wo die Walküren sich für neue Abenteuer optisch zurichten lassen, bei dem großen Vater-Tochter-Dialog zwischen Brünnhilde und Wotan ist die Bühne dann fast leer, in mythisches Dunkel gehüllt, am Schluss verweigert Schwarz sich auch noch dem von Wagnerfans geliebten Feuerzauber: Brünnhilde verschwindet einfach, ein Servierwagen mit einer einsamen Kerze wird hereingerollt, Wotan nimmt seinen Wanderer-Schlapphut und geht ab.
Musikalisch ist die „Walküre“ eine fulminante Steigerung zum „Rheingold“, Klaus Florian Vogt (Siegmund) und Lise Davidsen (Sieglinde) mit fulminanter Sopran-Kraft sind Idealbesetzungen, ebenso Georg Zeppenfeld als Hunding, Iréne Theorins flirrende Brünnhilde fällt dagegen ab. Die Walküren sind famos ausgewogen besetzt und präzis eingetaktet, Tomasz Koniecznys Wotan mit seinen Vokalfärbungen ist Geschmackssache, sein Einspringer Michael Kupfer-Radecky ungleich heller timbriert und textverständlicher. Cornelius Meister im Graben sorgt teils für ungewöhnlich gedehnte Tempi, nimmt aber im Laufe des Abends merklich Fahrt auf. Großer Jubel fürs Musikalische.
Doch nicht nur die Traditionalisten dürften sich bereits warmlaufen für das finale Buhkonzert für die Regie nach der „Götterdämmerung“. Denn Schwarz’ komplexes Konzept ernüchtert durch einkassierte Fallhöhe und ist trotz Netflix-Tauglichkeit des äußeren Plots in seinen tieferen Zusammenhängen nicht leicht zu lesen.
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