: Revolution im Hasenstall
Schlicht und klar. Alles, nur nicht folkloristisch:Das alpine Vorarlberg überrascht mit seiner ungewöhnlich innovativen Baukultur. Federführend sind zwei Dutzend junge Baukünstler
von ULLA HANSELMANN
Ein ungestörtes Frühstück ist für Walter Unterrainer keine Selbstverständlichkeit. Dabei wohnt der 47-jährige Architekt in dem Vorarlberger Örtchen Batschuns wirklich traumhaft: Vor den wandhohen Wohnzimmerfenstern in der Furxstraße ragen der Säntis und andere Gipfel auf, unten schnüren sich die Dörfer im Rheintal zu einer Siedlungskette auf, und von der großen Wiese vor dem Reihenhaus kann Walter Unterrainer manchmal sogar den Bodensee sehen. Hin und wieder wird die reizvolle Aussicht und das Frühstück jedoch von kamerabewaffneten Architekturfreaks gestört, die sich von der Wiese bis an die Holzterrasse heranpirschen, um die von Unterrainer entworfene Solarwohnanlage ins Visier zu nehmen. Der mit unscheinbarem Lärchenholz verkleidete Reihenhauskomplex hat es in sich: Im Innern entwickeln die kistenförmigen Wohneinheiten eine umwerfende Raumästethik, deren Einfachheit und Stringenz jede Kühle vermeidet.
Was aber mindestens ebenso fasziniert: Der Bau ist pure Ökologie, und die sieht man nicht. Durch ein Wärmetauschsystem und kontrollierte Belüftung kommen die Bewohner so gut wie ohne Heizung aus. Und für Warmwasser sorgt ein nonchalant in die Fassade integrierter Sonnenkollektor. Dass das Gebäude das Etikett „ökologisch korrekt“ nicht zur Schau trägt und dazu mit vier Millionen Schilling (inklusive Grundstück) nicht teurer als ein gewöhnliches Reihenhaus kommt, ist dem Entwerfer, dem Baukünstler Walter Unterrainer, hoch anzurechnen. Lob ist Unterrainer gewöhnt: 1999 hat er zum zweiten Mal in Folge den Vorarlberger Holzbaupreis gewonnen.
Architekturtouristen sind in Batschuns und anderswo in Vorarlberg keine Seltenheit: Das mit 350.000 Einwohnern kleinste und dabei am meisten industrialisierte österreichische Bundesland gilt als international viel beachtetes Zentrum zeitgenössischer Architektur, als Synonym für eine unverwechselbare Baukultur. In kaum einer anderen Region in Europa wird in so hoher Dichte so gut gebaut. Und gut heißt: schlicht und dennoch spannend, ökologisch, oft mit wenig Geld und viel Mut zur Innovation, aber ohne Effekthascherei, mit hoher handwerklicher Präzision und technischem Knowhow, aber ohne High-Tech-Schnickschnack.
Der Bludenzer Architekt Bruno Spagolla: „Was unsere Architektur auszeichnet, ist vielleicht die Verbindung von Pragmatik und alltäglicher Poesie.“ Spagolla gehört wie Walter Unterrainer den „Vorarlberger Baukünstlern“ an, einer losen Gruppe von gut zwei Dutzend Architekten, die seit den Achtzigerjahren den Ruf der Region als Architekturmekka begründet haben.
Freilich: Wie anderswo im Alpenraum, dominiert auch im stark zersiedelten Rheintal jene gebaute Folklore, die den Touristen heile Heimeligkeit vorgaukelt – nett gedrechselte Holzbalkone, rustikale Vordächer und wuchtige Giebel. Aber zwischen dieser Attrappen-Architektur tun sich im österreichischen Westen in erstaunlicher Vielzahl wohltuend klare und ehrliche architektonische Formen auf.
In Dornbirn etwa, mit 40.000 Einwohnern größte Stadt in Vorarlberg, setzt das Martinspark Hotel von Carlo Baumschlager und Dietmar Eberle unbekümmerte urbane Akzente im kleinstädtischen Zentrum: Dem trotz seiner Größe leicht wirkenden Hauptbau hat das Architektenduo ein grünes Restaurant-Beiboot auf schmalen Stützen vorgesetzt. Fensterschlitze reißen die Kupferhaut auf und geben den Blick auf die Stahlträger des kühnen Restaurantanbaus frei.
Ein gelungenes Beispiel für preiswerten, ökologischen Wohnungsbau ist die Wohnanlage Ölzbündt in der Hamerlingstraße: Mit Holzfertigteilen, punktuell an die Fassade gehängten Laubengängen und Balkonen sowie einer ganzen Latte an Energiespartechniken hat der Architekt Hermann Kaufmann ein edles Standardwohnbau-Modell vorgelegt, das dem Klischee der Ökobaracke widerspricht. Bekanntestes Beispiel Vorarlberger Baukunst dürfte das puristisch-provokative Kunsthaus in Bregenz sein – der Architekt, Peter Zumthor, ist allerdings ein Import aus der Schweiz.
Haben die Vorarlberger also die besseren Architekten? Oder nur einen besseren Geschmack? Vielleicht. Mit Sicherheit aber haben sie eine höhere Sensibilität für gute Architektur, wird dort mehr übers Bauen debattiert als anderswo. Die meisten Kommunen verfügen über einen Gestaltungsbeirat: ein Gremium aus drei Architekten, das die Gemeinde in Baufragen berät. Aber es wird nicht nur geredet: „Hüsle bauen“, das ist für fast jeden in dem Dreiländereck ein Lebensziel. Durch Jahrhunderte hindurch galt im Erbrecht die Realteilung. Das hieß Grund und Boden, also Bauland, für viele. Und tüchtig und selbstständig wie sie waren, bauten die Vorarlberger ihre „Hüsle“ selber. Ihr alemannischer Eigensinn erklärt indes eine Besonderheit im Vorarlberger Baurecht, die für das Entstehen der „Vorarlberger Bauschule“ entscheidend war: Es erlaubt auch nicht staatlich geprüften Architekten zu bauen – und genau das tat in den Siebzigern eine Gruppe junger Architekten. Sie entwarfen einfache, moderne, unprätentiöse Häuser, oft in Holzbauweise, und brachten damit eine Architekturrevolution von unten ins Rollen. „Unsere Hasenställe waren subversiv“, sagt Walter Unterrainer, „eine Provokation für die Wohlstandsprediger: Mit extrem wenig Geld schufen wir extrem qualitätsvolle Räume.“
Der Konflikt bekam bald einen institutionellen Rahmen: Mitte der Achtziger klagte die Grazer Architektenkammer gegen die jungen Revoluzzer, die sich seit 1981 Baukünstler nennen. Doch die beriefen sich auf die Freiheit der Kunst – und hatten damit das bessere Argument. Der Streit endete mit der kollektiven Aufnahme der Baukünstler in die österreichische Architektenkammer. Ein Erfolg, der, verstärkt vom „Multiplikatoreneffekt“ (Spagolla) durch frühere Bauherren und manchen liberalen Kopf in den Behörden, das Ende des Randgruppendaseins der „Bauschule“ und die Entwicklung hin zu einer starken kulturellen Kraft in der Region einläutete.
Das Berufsethos dieser oft in Teams arbeitenden Gruppe setzt auf Pragmatik statt Pose: Sie verstehen sich als Dienstleister, deren ganz und gar uneitle Aufgabe es ist, unter den gegebenen Bedingungen wie etwa Grundstück, Umgebung, Finanzrahmen die bestmögliche und angemessene Lösung zu finden.
Dabei brechen sie zwar formal mit der Tradition, bauen etwa lieber flach als giebelig, setzen aber bewährte regionale Raumtypologien und Techniken zeitgemäß um – der zentrale Gemeinschaftsraum des traditionellen Wälderhauses findet sich so in der Neigung zu offenen Grundrissen wieder. Ästhetische Qualitäten des Materials, wie Holz oder gern auch Beton, lassen sie für sich sprechen, anstatt sie zuzukleistern, und es ist immer die Konstruktion und Funktion, die die Form bestimmen und nicht umgekehrt.
Entscheidend ist aber vielleicht, was Walter Unterrainer bildhaft so umschreibt: „Gute Architektur entsteht nicht im seidenen Bett.“ Die meisten der Baukünstler kommen vom Handwerk, und es ist wohl die enge Tuchfühlung mit allen am Bau Beteiligten, vom Bauherren bis zur Raumplanungsbehörde in Bregenz, die die hohe Präzision und Stimmigkeit dieser Architektur ausmacht. Wer den Grund für die hohe Qualität aber allein in den kleinen Dimensionen, dem Ländlichen, der starken handwerklichen Tradition sieht, liegt falsch: Diese Kräfte führen anderswo zu Erstarrung, bringen allzu oft das Gegenteil von guter, innovativer Architektur hervor.
Und natürlich machen sich auch in Vorarlberg Investoren, Bauträger, Generalunternehmer im Baugeschäft breit. Doch die Architekten wollen sich die Regie nicht aus der Hand nehmen lassen. „Wir kooperieren mit denen, um sie zu überzeugen, dass sie mit Qualität noch mehr Geschäft machen können“, sagt Walter Unterrainer. So hat sein Dornbirner Kollege Wolfgang Ritsch für einen Bauträger einen Gewerbebau am Rande von Götzis realisiert. Der Clou der schwarz verglasten, eleganten Hallen: Ein modulares Konzept erlaubt es, die Raumanordnung zu variieren; das Gebäude kann sich so den Bedürfnissen unterschiedlicher Nutzer anpassen. „Das ist jetzt das Prestigeobjekt der Firma“, so Ritsch.
Vielleicht ist ja auch die ständige Selbstreflexion die Formel für hohe Qualität. Unterrainer, Spagolla und ihre Kollegen sind sich bewusst, dass die Vorarlberger Architektur an einem kritischen Punkt angelangt ist. Im Laufe der Jahre haben sich manche der avantgardistischen Querköpfe zu Großarchitekten entwickelt, allen voran das Starduo Baumschlager/Eberle, das sich bei mehr als vierzig Projekten gleichzeitig schon mal den Vorwurf der Unschärfe gefallen lassen muss. Kritiker machen Tendenzen hin zu einer Verflachung aus, und auch der europaweite Trend zur medienwirksamen Vermarktung und „Eventisierung“ der Architektur seitens der Kulturszene und der Tourismusbranche ist in vollem Gang. So kursiert die Idee, eine Art „Pilgerweg“ für Architekturtouristen von Bregenz bis ins Tessin einzurichten. Es ist fraglich, ob die eigensinnigen Alemannen da mittun.
ULLA HANSELMANN, langjährige Kulturredakteurin beim „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“, schreibt vorwiegend über Architektur. Sie ist 37 Jahre alt und lebt in Hamburg
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